blz 05 / 2013
Drei Haselnüsse für Aschenbrödel
Was darf sich eine Brennpunktschule wünschen?
Seit meiner Kindheit ist der Märchenfilm aus der Kooperation CSSR/DDR »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« in der Weihnachtszeit nicht wegzudenken. Die Filmadaptation des Grimm’schen Motivs ist mittlerweile ein Kultfilm geworden. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit, den Aschenbrödel mit Ausdauer, Witz und vor allem mit den drei Zaubernüssen gewinnt, fasziniert nicht nur kleine Zuschauer.
»Wundermittel« PKB: vergifteter Apfel
Was aber hat Aschenbrödel mit Brennpunktschulen gemeinsam? Vieles: Die schwierige Lage, in der sie sich befinden, den Kampf für gerechte (Bildungs-)Chancen, das Streben nach Aufstieg und Anerkennung und – die Zaubernüsse, die die Brennpunktschulen in Form von 100.000 Euro ab dem Haushaltsjahr 2014 zur freien Verfügung bekommen sollen. Dieser Geldsegen, der der Initiative des SPD-Fraktionschefs Raed Saleh und des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky zu verdanken ist, ermöglicht unbestritten einige Verbesserungen im Schulalltag dieser Schulen wie mehr SozialarbeiterInnen, Sprachcoaches und Ex-perten für Anti-Gewalt-Trainings. Ob die 100.000 Euro aber gleiche Ausgangsbedingungen und gleiche Chancen für alle Schulen schaffen können, scheint mir mehr als fraglich. Hier Überlegungen einer Klassenlehrerin einer schwierigen Klasse an einer Schule in schwieriger Lage.
Die 100-Prozent-Ausstattung aller Schulen mit der 3-Prozent-Reserve, die als PKB-Mittel jeder Schule zur Verfügung stehen, bringt von Anfang an eine defizitäre Ausstattung mit sich. Ich habe in meiner siebenjährigen Unterrichtstätigkeit in Berlin nur ein paar Tage erleben dürfen, an denen keine Lehrkraft fehlte. Nicht selten war es ein Drittel des Kollegiums. Die schwierige Suche nach geeigneten Vertretungskräften und der enorme zeitli-che Aufwand bei den Einstellungsverfahren ist nur das geringere Übel für Brennpunkte. Problematischer sehe ich einen anderen Aspekt: SchülerInnen aus sozial schwachen und/oder bildungsfernen Familien brauchen verstärkt Struktur, Verlässlichkeit, Regelmäßigkeit und Kontinui-tät. Das vermeintlich schnelle »Ersatz-Prinzip« widerspricht den Bedürfnissen dieser Schulklientel – der häufige Wechsel von neuen Lehrern, die in der Regel keine vollständige Lehrerausbildung haben, bringt viel Unruhe und Frust mit sich. Wenn einige PKB-Kräfte nach ein paar Tagen/Wochen feststellen, dass der Unterricht an Brennpunktschulen doch nicht ihr Traumjob ist, da sie für erzieherische Arbeit mit verhaltensauffälligen SchülerInnen nicht genug qualifiziert sind, ist es meistens zu spät.
Am Beispiel meiner Klasse: Ich bin seit den Herbstferien die dritte Klassenlehrerin in diesem Schuljahr. Durch Erkrankungen und mehrere neue Stundenpläne behielt die Klasse seit dem Schuljahrbeginn nur zwei Lehrer. In zahlreichen Fächern wurden sie innerhalb der letzten sieben Monate von drei verschiedenen LehrerInnen pro Fach unterrichtet. Neues Spiel, neues Glück, könnte man ironisch sagen. Was dieser permanente Wechsel für etwas »unruhige« Klasse bedeutet, hat der ehemalige Bildungssenator Jürgen Zöllner bei der Einführung des PKB-Systems wohl nicht bedacht. Die Forderung der GEW BERLIN nach 120 Prozent personeller Ausstattung für Brennpunktschulen, die Verlässlichkeit bringen würde, sehe ich als eine der nötigsten Bedingungen für die Chancengleichheit aller Schulen.
ISS ohne gymnasiale Oberstufe
Ein weiterer Aspekt, der in meinen Augen der Chancengleichheit massiv widerspricht, ist die Tatsache, dass es ISS mit und ISS ohne gymnasiale Oberstufe gibt. Ähnliche Ausgangsbedingungen zu schaffen sollte aber ein ursozial-demokratisches Anliegen sein. Man muss keine Hellseherin sein, um das Anmeldeverhalten der bildungsbewussten Eltern vorauszusagen, wenn sie sich zwischen einer ISS mit oder ohne eigene Oberstufe entscheiden sollen. Welche Schulen die Verlierer der Schulstrukturreform sind, wird dann schnell klar …
Das Ziel der Schulstrukturreform waren zwei gleichwertige Schulformen, die ISS und die Gymnasien, die beide zum Abitur führen können. Dass es ISS ohne eigene gymnasiale Oberstufe »auf Umwegen« auch können, durch eine kooperative Oberstufe oder durch die Kooperation mit einem Oberstufenzentrum, wirkt auf den ersten Blick für viele Eltern nicht sehr einleuchtend. Da entsteht eher der Eindruck, dass eine ISS ohne eigene Oberstufe eine ISS zweiter Klasse ist, also eine umbenannte »Haupt-schule«. Und ist dieser Eindruck wirklich so unberechtigt, wenn die Zusammensetzung der Schülerschaft und Indikatoren wie Lernmittelbefreiung, ndH, Grundschulprognose, Ergebnisse der Vergleichsarbeiten, Schuldistanz an vielen dieser Schulen in Betracht gezogen werden? Eine »gesunde« Mischung der Schülerschaft an allen ISS von oben vorauszusetzen und einzuplanen, ist eine Sache. Sich als Schule in schwieriger Lage aus eigenen Kräften zu »erheben« und dabei das gesellschaftliche Versagen diesen Kindern gegenüber auszugleichen, mit dem Stempel ISS ohne Oberstufe, ist eine andere Sache. Hier müssen situationsbezogene Lösungen in Absprache mit den Schulen gefunden und umgesetzt werden. Tragfähige Schulkonzepte dürfen nicht an der Finanzierung scheitern. Schließlich sind diese Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft.
Erfolgsmodell Campus Rütli
Ja, es gibt sie, die Vorbilder. Und in diese Vorbilder wird auch enorm investiert. Davon können viele Brennpunktschulen nur träumen. Das von den Medien scharf beobachtete Campus Rütli hat viele Erfolge in der Schaffung eines gemeinsamen Sozialraumes zu vermelden. Unter anderem schulbezogene Jugendhilfe mit wöchentlichen Sprechstunden von Ärztinnen, Therapeutinnen, Ernährungsberaterin, zwei interkulturelle Moderatoren, Kinder- und Jugendclub und Schulstation. Dass dieser Ansatz der richtige Weg ist, ist unumstritten. Das einzige Problem dabei: Dieser Weg kostet Geld. Und ich würde wetten, dass es mehr als 100.000 Euro pro Jahr sind.
Der Ansatz der Bildungsverwaltung geht in die richtige Richtung. Nach der »frohen Botschaft« über die zusätzlichen Gelder für Brennpunkte initiierte die Bildungssenatorin Sandra Scheeres eine Arbeitsgruppe, die einen Indikatorenkatalog der Kriterien entwickeln sollte, die eine Schule als Schule in schwieriger Lage bezeichnet. Dazu kündigte Staatssekretär Rackles an, dass die Senatsverwaltung dabei mit der Bosch-Stiftung und den »Aktionsräumen plus« kooperiert. »Aktionsräume plus« verbinden die Aktivitäten des Senats und der Bezirke im Hinblick auf urbane Problemfelder, die schneller erkannt werden sollten. Die sozialräumliche Entwicklung soll verbessert werden, um den Jugendlichen neue Perspektiven zu eröffnen. Das ganze Umfeld der Brennpunktschulen einzubeziehen und die Bildung der benachteiligten Jugendlichen als gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu sehen, ist definitiv eine fruchtbare Idee. Ob dafür die jährlichen 100.000 Euro pro Schule reichen?
Fazit: 100.000 Euro für jede Schule in schwieriger Lage ist ein Schritt in die richtige Richtung. Für viele Schulen ist die Summe aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ohne weitere Unterstützungsmaßnahmen sind 100.000 Euro eben keine Zaubernüsse, sondern bloß Peanuts …