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Schule

»Du Jude!« – Antisemitismus an Schulen

Der Verein Bildung in Widerspruch (BiW) entwickelt pädagogisches Material gegen Antisemitismus. Eine neue Publikation präsentiert Zahlen zum Problembewusstsein von Jugendlichen und Lehrkräften.

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Foto: Adobe Stock

Auch 75 Jahre nach der Shoah gehört ›Du Jude‹ zu den häufigsten Beleidigungen auf deutschen Schulhöfen« konstatierten unlängst die Antisemitismusforscher*innen Julia Bernstein und Florian Diddens, und das – so geben sie weiter zu bedenken –, »obwohl der Antisemitismus dem Selbstverständnis und den Leitwerten der Gesellschaft nach geächtet ist«.

Doch wie stehen Schüler*innen und Lehrkräfte zu diesem Ausspruch, bei dem eine Identitätskategorie negativ gewendet und als offensichtliche Beleidigung genutzt wird?

Dies wollten wir von 394 Schüler*innen und 71 Lehrkräften aus dem gesamten Bundesgebiet wissen, die wir im Rahmen von zwei Online-Erhebungen zu ihren Perspektiven auf Antisemitismus und Bildungsarbeit befragt haben. Die Umfragen beleuchten Interessen und Kompetenzen der Schüler*innen im Themengebiet sowie den Grad ihrer Sensibilisierung für Antisemitismus als gesellschaftliches Problem. Sie geben zudem Aufschluss darüber, in welchen Kontexten die Lehrkräfte Antisemitismus sowie Judentum und jüdisches Leben im Unterricht behandeln, welche Kompetenzen sie sich in diesen Bereichen attestieren und wie es bei Antisemitismus um ihr Problembewusstsein bestellt ist.

Die Wahrnehmung des Problems

Bei der Abfrage des generellen Problembewusstseins bestätigten 92 Prozent der von uns befragten Lehrkräfte die Aussage »Judenfeindschaft ist in Deutschland ein besorgniserregendes Problem«. Bei den befragten Schüler*innen fiel die Zustimmung mit rund 54 Prozent deutlich geringer aus. Damit legen die Lehrkräfte bei dieser Frage ein weit überdurchschnittliches Problembewusstsein an den Tag, die Schüler*innen dagegen bleiben hier hinter den Durchschnittswerten für die Gesamtbevölkerung zurück. Zur Orientierung: Beim repräsentativen Eurobarometer bezeichneten 2018 etwa zwei Drittel der Befragten in Deutschland den Antisemitismus im eigenen Land als ein bedeutendes Problem.

Wie aber stellt sich die Situation abseits von allgemeinen Aussagen dar? Wie nehmen Schüler*innen und Lehrkräfte konkrete antisemitische Vorfälle im Alltag wahr? Um diesen Fragen nachzugehen, konfrontierten wir die von uns befragten Schüler*innen und Lehrkräfte mit einer fiktiven, an den Schulalltag angelehnten Situation: »In der Pause albern zwei Schüler herum und ärgern einander. Einer sagt zum anderen: »Stell dich mal nicht so an, du Jude!« Beide Befragtengruppen sollten nun angeben, ob sie diesen Vorfall als antisemitisch bewerten würden.

Über die Hälfte der teilnehmenden Schüler*innen (53 Prozent) gab an, dass der genannte Ausspruch ihrer Ansicht nach immer antisemitisch sei, zwei Prozent erklärten, dies sei nie der Fall. Die übrigen 45 Prozent entschieden sich für die Antwortkategorie »kommt darauf an«. Diese 178 Schüler*innen wurden im Anschluss gefragt, unter welchen Umständen der Ausspruch ihrer Meinung nach einen antisemitischen Charakter habe.

Die Bewertung des Einzelfalls

Für etwa zwei Drittel dieser Teilgruppe war der Ausspruch nur dann als antisemitisch zu werten, wenn »die Person, die ›Du Jude‹ sagt, tatsächlich etwas gegen Juden hat« und/oder »die Person, die ›Du Jude‹ genannt wird, tatsächlich jüdisch ist«. Für 14 Prozent war als Bewertungskriterium (auch oder ausschließlich) die Frage von Bedeutung, ob »einer der Umstehenden jüdisch ist«. Ein freies Kommentarfeld für Erläuterungen wurde von 34 Befragten genutzt: Als Kriterium tauchte hier am häufigsten die Frage auf, ob die Sprecher*in eine Äußerung im »Spaß oder Ernst« tätigte. Auch sonst zielte das Gros der Anmerkungen auf die Sprecher*in und ihre Intentionen ab.

Interessanterweise zeigen die Antworten der befragten Lehrkräfte ähnliche Tendenzen: Etwas über 60 Prozent der Befragten erklärten, dass der geschilderte Vorfall in ihren Augen immer antisemitisch sei. Eine Person vertrat die Ansicht, dies sei niemals der Fall. Knapp 40 Prozent entschieden sich für die Antwortkategorie »nur unter bestimmten Voraussetzungen«. Diese 27 Lehrkräfte wurden in der Folge gefragt, welche Voraussetzungen ihrer Ansicht nach für eine Wertung als antisemitisch gegeben sein müssten.

Unter den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wurde hier mit zwei Dritteln der Klicks am häufigsten die grundsätzliche Einstellung der Beleidiger*in gegenüber Jüd*innen als Bewertungskriterium gewählt. Für ein Drittel der Befragten war bei der Beurteilung der Situation die Frage bedeutend, ob der oder die Beleidigte tatsächlich jüdisch ist oder nicht. Vier Personen bezogen eventuell umstehende Jüd*innen in ihre Überlegung mit ein. Bei den 18 Freifeldkommentaren der Lehrkräfte fällt auf, dass in etlichen nicht der Vorfall selbst bewertetet, sondern die Frage diskutiert wird, unter welchen Umständen der*die betreffende Schüler*in als Antisemit*in anzusehen sei. Vielen Kommentator*innen fiel es offensichtlich schwer, die Frage »ist die Aussage antisemitisch?« von der Frage »ist der*die Sprecher*in ein*e Antisemit*in?« zu trennen.

Nicht nur auf die Intention fokussieren

Die Fokussierung auf die Intention des oder der Sprechenden ist auch bei öffentlichen Debatten um Antisemitismus gang und gäbe: In der Folge problematischer Äußerungen wird häufig weniger der Inhalt des Gesagten in den Fokus gestellt, als vielmehr darüber gestritten, wie es die Person gemeint haben könnte. Diese selbst weist jeden Antisemitismus meist weit von sich. Schließlich wollen heute nur sehr wenige Menschen antisemitisch sein, und nur eine kleine Minderheit hat ein geschlossen antisemitisches Weltbild. Die Abwesenheit erklärter Antisemit*innen ist allerdings nicht mit der Abwesenheit von Antisemitismus zu verwechseln.

Gleiches gilt auch für die Verwendung von »Du Jude« als Beleidigung: Sicherlich geschieht dies bei Jugendlichen häufig gedankenlos und nicht, um bewusst eine antisemitische Haltung auszudrücken. Ähnlich wie homophobe, frauen- oder behindertenfeindliche Herabsetzungen ergibt aber auch diese Beleidigung nur Sinn, wenn Jüdischsein (oder eben Homosexualität, Weiblichkeit, Behinderung) als etwas grundsätzlich Negatives begriffen wird. Der Ausspruch »Du Jude« greift einerseits antisemitische Stereotype von Machtgier, Reichtum und Hinterhältigkeit auf, die tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt sind, und dockt andererseits an Vorstellungen an, die Jüdischsein auf Opferschaft reduzieren. Damit beinhaltet jede Nutzung des Ausspruchs »Du Jude« antisemitische Implikationen und Projektionen und trägt zu deren weiterer Verfestigung bei – völlig unabhängig davon, ob dies intendiert war. Insbesondere Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte sollten das erkennen und entsprechend handeln.

Sofort intervenieren

Das bedeutet zunächst einmal, dass in jedem Fall eine sofortige Reaktion notwendig ist, die die Äußerung verurteilt. Je nach Situation ist es außerdem wichtig, die beschimpfte Person zu schützen und auch Umstehende nicht außer Acht zu lassen. Allen muss klar werden, dass die Verwendung von »Du Jude« als Schimpfwort eine antisemitische Handlung ist, die nicht geduldet wird. Gegenüber dem*der Beleidiger*in kann es Sinn machen, offen zwischen Person und Äußerung zu unterscheiden: »Es geht nicht darum, ob du antisemitisch bist, sondern darum, dass du etwas Antisemitisches gesagt hast.« Eine solche Trennung kann die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Äußerung erleichtern.

Bei der weiteren pädagogischen Intervention sind Fragen der Intention und der zugrundeliegenden Einstellung, aber auch das Alter, der Bewusstseinstand et cetera von Bedeutung. Die Einbeziehung solcher Parameter darf aber nicht dazu führen, dass der antisemitische Gehalt von Aussagen bagatellisiert oder wegdiskutiert wird. 

 

Ruth Fischer, Jan Harig, Malte Holler, Caterina Zwilling und unter Mitarbeit von Pia Lamberty:
Mehrfachnennungen möglich. Umfragen zu jugendlichen, pädagogischen und jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus und Bildungsarbeit, Berlin 2020. Die Publikation kann unter www.bildung-in-widerspruch.org heruntergeladen werden.

In der bbz 6/2016 erschien ein Artikel (Zweitabdruck) auf den wir noch einmal hinweisen möchten: „Der „Schwule“ und die „Schlampe“  Sexualisierte Schimpfworte in der Schule – woher sie kommen und wie wir damit umgehen können.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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