Zum Inhalt springen

blz 04 - 05 / 2015

Es geht voran

Die Entwicklung der inklusiven Schule aus der Sicht der Vorsitzenden des Fachbeirates

Mit der UN-Konvention haben behinderte Menschen weltweit ihren Anspruch auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe verbindlich artikuliert. Damit ist nicht nur die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten, sondern ebenso alle Bürgerinnen und Bürger, ihren Teil zu einem besseren Zusammenleben beizutragen. Die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen war 1989/90 ein Schwerpunkt der rot-grünen Bildungspolitik.

Die gemeinsame Erziehung wurde zuerst in der Grundschule aus dem Status des Versuchs auf den schulgesetzlich abgesicherten Regelfall befördert, später in den Sekundarschulen.

Von der integrativen zur inklusiven Schule in Berlin

Die Entwicklung der integrativ arbeitenden Schule in Berlin zur inklusiven Schule hat durch die UN-Konvention einen neuen Anstoß bekommen und es gibt neue Instrumente und Einrichtungen, mit denen diese Entwicklung weiter befördert werden soll. Die Einsetzung des ersten Beirats »Inklusive Schule in Berlin« war die Reaktion auf eine sehr strittige Debatte um das von der Senatsbildungsverwaltung 2011 vorgelegte Gesamtkonzept »Inklusive Schule«. Sein Auftrag war es, auf Grundlage dieses Konzepts und unter Würdigung der wesentlichen Kritikpunkte, Empfehlungen zur Überarbeitung vorzulegen. Die Ergebnisse des Beirats sind nachzulesen unter www.gew-berlin.de/public/media/beiratsempfehlungen_endfassung.pdf oder auf der Homepage der Senatsbildungsverwaltung.

Mit der letzten Empfehlung Nummer zwanzig zielte der Beirat insgesamt auf größere Partizipation im Prozess der Weiterentwicklung der Berliner Schule zur inklusiven Schule. So schlug er die erneute Einrichtung eines Fachbeirats vor, allerdings unter Einbeziehung einer größeren Anzahl von VertreterInnen der Behindertenverbände, sowie weiterer Interessenverbände. Auch die GEW BERLIN ist vertreten. Die Foren, die schon den ersten Beirat begleitet hatten, sollten fortgeführt werden. Beides ist realisiert worden.

Konkrete Vorschläge des Fachbeirats Inklusion

Als Nachfolger des ersten Beirats, wurde der »Fachbeirat Inklusion« eingesetzt, der nun die Umsetzung der Empfehlung des ersten Beirats begleitet. Die Projektgruppe Inklusion in der Senatsverwaltung, hat die »Eckpunkte für ein Konzept für den Weg zur inklusiven Schule‘« vorgelegt. Der Fachbeirat empfiehlt darüber hinaus, Standards für inklusive Schulen zu entwickeln. Zudem fordert er, zur Konkretisierung einen Zeit- und Maßnahmenplan vorzulegen, mit dem die Entwicklungsschritte zu inklusiven Schulen in Berlin skizziert werden können. Der Fachbeirat hat seine Empfehlung bekräftigt, dass der Vorbehalt im Berliner Schulgesetz Paragraf 37.3 aufgehoben werden soll.

Ein wesentlicher Kern der Empfehlungen des ersten Beirats war die Umsteuerung der Ressourcenzuweisung für die Förderschwerpunkte Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache (LES). »Kinder mit den Förderschwerpunkten LES machen in Berlin etwa 75 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus. Dieser Förderbedarf korreliert in hohem Maße mit der sozialen Herkunft. Gleichzeitig variieren die Diagnosen in diesen Bereichen erheblich. Dies waren die Gründe dafür, dass diese Förderschwerpunkte im Senatskonzept einen großen Raum einnahmen ….«

Ein Dispositionspool für eine gerechtere Verteilung

Es sei kurz in Erinnerung gerufen: Für die Kinder mit LES-Förderbedarf soll die Feststellungsdiagnostik zu Gunsten einer lernbegleitenden Diagnostik entfallen. Die Schulen sollen, entsprechend ihrem Anteil an lernmittelbefreiten (lmb) Kindern, eine Grundausstattung für die sonderpädagogische Förderung erhalten.

Diese im Senatskonzept vorgesehene Orientierung an Quoten, wurde im Beirat grundsätzlich als sinnvoll erachtet.

Es ist aber vorhersehbar, dass es bei der Umstellung der Ressourcenzuweisung zu größeren Ungerechtigkeiten kommen kann, da heute viele Regelschulen mit langer Integrationserfahrung nicht unbedingt auch einen hohen lmb-Anteil aufweisen. Damit würden sie weniger LehrerInnenstunden als bisher bekommen. Um diese Ungerechtigkeiten auffangen zu können, hat der Beirat einen zweckgebundenen Dispositionspool im Umfang von zehn Prozent der Personalmittel für die Sonderpädagogik vorgeschlagen. Damit sollen Regelschulen mit höherer Anzahl von LES-Kindern aber niedrigem lmb-Anteil zusätzliche Mittel erhalten können.

Für den Haushalt 2014/15 sind diese zusätzlichen Ressourcen nicht bewilligt worden. Die Senatsverwaltung hat darauf reagiert und plant eine Veränderung der Ressourcenzuweisung und der Änderung des Diagnoseverfahrens erst dann, wenn die erforderlichen zusätzlichen Mittel bewilligt sind. Bis dahin werden die Unterstützungsmaßnahmen für die Entwicklung zur inklusiven Schule aufgebaut: Beratungs- und Unterstützungs-zen-tren, Qualifizierung des Personals und Schwerpunktschulen. Alles Maßnahmen, für die die Mittel bewilligt sind. Dieser Zeitplan folgt den Empfehlungen des Beirats.

Die Verwendung des Sozialindikators für die Zuweisung der Ressourcen für LES wird in der GEW-Broschüre »Berlin auf dem Weg zur inklusiven Schule« als diskriminierend bezeichnet. Das finde ich schwer nachvollziehbar. Sollen denn Schulen völlig unabhängig von der soziostrukturellen Zusammensetzung ihrer SchülerInnenschaft gleich behandelt werden? Wissenschaftlich gilt der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Förderbedarf im Bereich LES als unumstritten.

Insofern ist die Zuteilung nach einer solchen Orientierung sozial gerecht.

Beratungs- und Unterstützungszentren

Dem Fachbeirat wurden 2014 nach den »Eckpunkten«, die Konzepte zum Aufbau der Beratungs- und Unterstützungszentren (BUZ), zur Qualifizierung des Personals und zu den Schwerpunktschulen vorgelegt. In allen Regionen werden derzeit Beratungs- und Unterstützungszentren aufgebaut, beziehungsweise arbeiten sie in einigen Regionen schon seit Jahren als Modelle. Ihre Aufgabe ist es, die Schulen der jeweiligen Regionen in der Entwicklung zu inklusiven Schulen zu unterstützen.

Der Fachbeirat hat vor allem auf die notwendige Kooperation mit den vorhandenen Beratungsdiensten, insbesondere der Schulpsychologie, hingewiesen. Es gibt schon zu viele Defizite der Koordination in diesem Bereich. Zudem erinnert der Fachbeirat daran, dass auch die Schulen »Zentren für Inklusion« brauchen, die für die Weiterentwicklung der einzelnen Schule zuständig sind. Ebenso fehlen bislang noch die Ombudsstellen, die vom Beirat gefordert wurden.

Konzepte der Qualifizierung und Fortbildung

Es wird anerkannt, dass mit dem vorgelegten Konzept das Fortbildungsangebot mit dem Bedarf der Schulen besser abgestimmt werden soll. Auch hier fordert der Fachbeirat konkretere Angaben über die Quantitäten, die in den nächsten Jahren geplant sind. Zudem sollte in den Curricula stärker die Förderung sonderpädagogischer Kompetenzen vorgesehen werden. Der Beirat hatte empfohlen, Netzwerke inklusiver Schulen zu bilden, von denen die Schulen lernen können, die noch wenig oder keine Erfahrung mit Inklusion haben. Gerade weil es in Berlin bei Lehrkräften bereits viel Erfahrung in integrativ arbeitenden Regelschulen gibt, sollte dieses Erfahrungswissen für die weitere Entwicklung genutzt werden. Diese Netzwerkbildung sollte als Instrument aufgenommen werden. Es gibt im Übrigen bereits die ersten Beratungs- und Unterstützungszentren, die solche Netzwerke bilden.

Im Januar 2015 hat sich der Fachbeirat mit dem Konzept der Schwerpunktschulen befasst. Sie sollen für alle Behinderungsarten, außer LES, eine Alternative zu den Förderschulen bilden. In keiner Klasse dürfen mehr als drei Kinder mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf, den die jeweilige Schwerpunktschule anbietet, unterrichtet werden. Von Seiten des Fachbeirats wurde als Ergänzung gewünscht, dass konkretere Angaben zur Personalaus-stattung der Schulen gemacht werden sollen und zu der erforderlichen sonderpädagogischen Kom-petenz, die zur Grundausstattung gehören muss.

Nicht alle unsere Änderungsvorschläge werden von der Senatsverwaltung übernommen, aber insgesamt hat sich eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Senatsverwaltung und Fachbeirat hergestellt. Wir werden uns in den nächsten Sitzungen erneut mit den Schwerpunktschulen, der Kooperation Schule/Jugendhilfe, der Entwicklung der Rahmenpläne, der Schulassistenz, der Gestaltung der Übergänge, der beruflichen Bildung befassen und natürlich die Umsetzung der bisherigen Konzepte in die Praxis begleiten.

Ressourcen

In der Publikation der GEW BERLIN »Berlin auf dem Weg zur inklusiven Schule«, nimmt die Frage der Ausstattung der Integration einen zentralen Raum ein. Das ist sicher das gute Recht einer Gewerkschaft, bedarf aber auch eines Kommentars aus anderer Perspektive. 1989/90 war die Ausstattung mit zusätzlichen LehrerInnenstunden beträchtlich, was damals nicht nur einhellig begrüßt wurde. Die damalige Haushaltslage ließ diese Zusatzausstattung zu, gleichzeitig war sie aber auch dem frühen Stadium und auch der noch relativ geringen Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Regelschule zu verdanken. Schon damals hat der Behindertenbereich der Alternativen Liste davor gewarnt, diese Kinder quasi zu »vergolden« (damaliger O-Ton) und damit ihre Integration zu einer Besonderheit und nicht zu einer Selbstverständlichkeit zu machen. Es war damals klar, dass diese gute Ausstattung nie zu halten sein würde, wenn der Prozess sich flächenmäßig ausbreiten sollte. Dies wurde auch den Schulen mitgeteilt.

Ich will damit nicht die Bedeutung der Rahmenbedingungen negieren, aber die Prioritätensetzung anders justieren. Die Befürchtungen der damaligen WarnerInnen haben sich zum Teil bewahrheitet. Zwar hat sich die gemeinsame Erziehung seit den 90er Jahren sukzessive ausgedehnt. So werden mittlerweile fast 60 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Regelschule unterrichtet, aber die Frage der Ausstattung ist bei vielen Lehrkräften und auch Eltern an die erste Stelle gerückt, und die Weiterentwicklung der gemeinsamen Erziehung zur Inklusion wird häufig davon abhängig gemacht.

Damit ist die Prioritätensetzung in eine Schieflage geraten, die es wieder gerade zu rücken gilt.

Derzeitige Ausstattung der Integration

Bis zur Senatsklausur Anfang Januar 2015 war die Ausstattung der integrativ arbeitenden Regelschulen sowohl mit LehrerInnenstunden wie mit SchulhelferInnen auf ein nicht zu akzeptierendes Maß runtergefahren worden. Die in den Zumessungsrichtlinien für das Schuljahr 2014/15 vorgesehenen LehrerInnenstunden für die Förderung der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, kamen und kommen in dem vorgesehenen Umfang nicht in den Schulen an. Die zusätzlichen Stunden für Kinder mit Lernbehinderungen sind faktisch auf 1,5 reduziert, anstelle der 2,5, die in den Zumessungsrichtlinien für die Grundschule vorgesehen sind. Schulen müssen sich aber darauf verlassen können, dass das, was auf dem Papier steht, auch real zur Verfügung steht.

Es geht nicht an, dass bei einem festgesetzten Etat für die sonderpädagogische Förderung in Berlin ausschließlich die integrativ arbeitenden Schulen von Kürzungen betroffen sind. Dies konterkariert die schulgesetzliche Vorrangstellung der gemeinsamen Erziehung. Auf diesen Sachverhalt hat der Senat mittlerweile reagiert und für 2015 zusätzlich elf Millionen und für 2016 sechzehn Millionen bewilligt.

Damit ist die Deckelung der LehrerInnenstellen für die sonderpädagogische Förderung aufgehoben und die Unterdeckung kann zum großen Teil ausgeglichen werden.

Ausblick

Grundsätzlich umfasst die Konzeption einer inklusiven Schule mehr als die Weiterentwicklung der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern. Sie bedeutet, dass kein Kind, gleich welcher sozialer oder ethnischer Herkunft, welchen kulturellen oder religiösen Hintergrundes, welcher sexueller Orientierung oder ob behindert oder nicht, in der Schule negativ diskriminiert wird.

Trotzdem bedarf es zur Entwicklung auch der Fokussierung auf einzelne Schwerpunkte. Mit der UN-Konvention ist ein solcher Punkt gesetzt worden und es ist berechtigt, dass sich ein Fachbeirat mit diesem Schwerpunkt befasst. Zumal es gerade in diesem Bereich die lange Tradition der besonderen Förderung in Förderschulen gibt. Das bedeutet nicht, das Ziel aus dem Auge zu verlieren, es wird aber nicht alles von allen gleichzeitig bearbeitet.

Inklusive Schule soll in einem inklusiven Prozess weiter entwickelt werden. Das bedeutet aber auch, dass sich die Beteiligten als aktive GestalterInnen dieses Prozesses begreifen. Die Politik, das Parlament, die Senatsverwaltung und die Bezirke sind für die Gestaltung der Rahmenbedingungen verantwortlich. Aus dieser Verantwortung sollen sie auch nicht entlassen werden. Die PädagogInnen vor Ort, aber auch das nicht pädagogische Personal, sind für die Gestaltung der Schule, für den Unterricht, den förderlichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen verantwortlich. Zur Professionalität gehört es auch, auf gesellschaftliche Veränderungen angemessen pädagogisch zu reagieren. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung aller Erwachsenen für das gute Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in dieser Stadt.

An diesen Zielen sollten wir uns alle orientieren.

Dieser Artikel ist Teil des blz-Themenschwerpunkts „Inklusion“