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Schwerpunkt „Ukraine und Russland – Furchen eines Krieges“

Für gewerkschaftlichen Austausch ins Kriegsgebiet

In der Ukraine behaupten sich Gewerkschaften und soziale Initiativen unter Kriegsbedingungen. Humanitäre Hilfe und praktische Solidarität aus den deutschen Gewerkschaften machen vor Ort einen Unterschied.

Foto: Hermann Nehls

Eine Gruppe von vier Gewerkschafter*innen aus Deutschland und der Schweiz reiste im Oktober 2023 in die Ukraine. Bei Treffen mit verschiedenen Gewerkschaften und sozialen Initiativen ging es darum, so viel Informationen wie möglich zur Lage der Beschäftigten zu bekommen, Kontakte aufzubauen und Spenden zu übergeben. Die Reise wurde organisiert von der gewerkschaftsübergreifenden Initiative »Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine – Humanitäre Hilfe« und finanziell gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt.

Eines der ersten Treffen fand mit der Gewerkschaft der in Bildung und Wissenschaft Beschäftigten der Ukraine statt. Die TUESWU ist die größte Branchengewerkschaft des Dachverbands FPU. Wir trafen uns im Gewerkschaftshaus am Majdan in Kyjiw, das während der Orangenen Revolution und dem Euromaidan die Zentrale der Oppositionsbewegung war. Im Februar 2014 wurde es von Getreuen der Regierung Janukowitsch angegriffen und in Brand gesteckt. Bis 2018 wurde es wieder aufgebaut und modernisiert.

 

Hindernisse für Bildung

 

Die Bildungsgewerkschaft ist schon vom Habitus her noch old style: Der schon ältere Präsident führt den Vorsitz und das Wort, sekundiert von Stellvertreter*innen und Sekretär*innen. Sie sind etwas erstaunt, wen sie da vor sich haben und was unser Anliegen ist: Wir wollen in Deutschland jenseits der Diskussion um Waffenlieferungen und geopolitische Fragen dafür werben, auf unterer Ebene praktische Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine zu üben und in den Austausch mit ihnen treten.

In einem Video werden uns die Zerstörungen gezeigt, die der Krieg an Bildungseinrichtungen aller Art, vom Kindergarten bis zur Hochschule, angerichtet hat, materiell wie personell. Viele Bildungseinrichtungen sind zerstört, Lehrkräfte und Studierende in den Westen gegangen. Die meisten Pädagog*innen brauchen psychologische Unterstützung. Es fehlen Schutzräume gegen Bombenangriffe an Schulen und Universitäten. Die Löhne sind so niedrig, dass Lehrtätigkeit schon vor dem Krieg nur von Frauen ausgeübt wurde, deren Männer einen besser bezahlten Job haben. Die meisten Männer weigern sich, für so wenig Geld zu arbeiten. Die Gewerkschaft fordert, dass die Löhne so weit angehoben werden, dass Lehrkräfte nicht mehr ins Ausland abwandern beziehungsweise wieder zurückkommen.

 

Berufliche Bildung in staatlicher Hand

 

Das Bildungssystem weist ein ausgedehntes Netz an berufsbildenden schulischen Einrichtungen auf. Es ist in drei Stufen unterteilt – berufliche Grundbildung, darüber hinausgehende berufliche Basisbildung mit vertieftem technischen Wissen und der Kompetenz zur Ausübung komplexerer operativer Tätigkeiten und schließlich die höhere berufliche Bildung, die in drei bis vier Jahren an spezialisierten Colleges und Fachschulen erworben wird. Seit 2015 wird die Berufsbildung auf der zweiten Stufe zusätzlich als duale Ausbildung angeboten. Was der Bildungsgewerkschaft wichtig ist: Bisher ist die berufliche Bildung Teil des öffentlichen Bildungswesens. Beratungsfirmen aus den USA sind nun dabei, hier einen Paradigmenwechsel vorzunehmen und die berufliche Bildung allein privatwirtschaftlichen Interessen zu unterwerfen. Dies muss verhindert werden.

Man gibt sich nicht die Klinke in die Hand in Kyjiw. Der letzte Besuch bei der Bildungsgewerkschaft war im Mai 2023. Damals kam eine Delegation des Europäischen Gewerkschaftsbunds vorbei. Ein Jahr vorher hatte die Lehrkräftegewerkschaft aus den USA vorbeigeschaut. Das war's auch schon. TUESWU wünscht sich einen stärkeren Austausch über Lehr- und Lernkonzepte mit der GEW und gegenseitige Besuche.

 

Unabhängige Initiativen finden Zulauf

 

In der Ukraine haben sich vor dem Krieg zahlreiche lokale Initiativen von Beschäftigten gebildet. Sie entstanden aus lokalen Konflikten, bei denen sich Beschäftigte von staatsnahen Gewerkschaften im Stich gelassen fühlten. Wir hatten beispielsweise Kontakt mit einer unabhängigen Gruppe der Eisenbahner*innen, die uns berichtete, dass sie Beratungsstrukturen für arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen aufbauen wollen.

Besonders beeindruckt hat uns die Initiative #BeLikeNina, die 2019 im Gesundheitsbereich entstanden ist. Die Krankenpflegerin Nina Koslowska hatte im November 2019 dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen. »Eines nachts kam ich nach Hause von der Arbeit, öffnete Facebook und schrieb mir alles von der Seele: unter welchen Bedingungen wir arbeiten, was unsere Löhne sind«, erzählt sie. Innerhalb von 24 Stunden wurde der Aufruf 24.000 mal verbreitet. Nina rief zu einer Protestwelle auf, aber viele hatten Angst, selber öffentlich zu protestieren oder Kritisches zu schreiben, sie fürchteten Abmahnungen. Zum Teil wussten sie auch nicht, dass sie auch Rechte haben und dass die Gewerkschaft dazu da ist, diese Rechte zu schützen. Die Angst galt es zu überwinden.

Im Dezember 2019 stellten sich Krankenpfleger*innen in ihrer Berufskleidung mit einem Transparent vor das ukrainische Parlament. Bei dieser ersten Aktion machten 100 Personen mit, auch Ärzt*innen und Studierende schlossen sich an. Sie trugen Gesichtsmasken mit der Aufschrift »Wir sind keine Sklaven«. Das Transparent war mit blutroter, zerfließender Schrift bemalt. Für die Öffentlichkeit war das ein Schock, unerhört. Danach wurde beschlossen, die Facebook-Gruppe »Sei wie Nina« zu gründen. Die Initiative fand Nachahmer*innen in vielen ukrainischen Städten und so organisierte sie Aktionen am gleichen Tag und zur gleichen Zeit. Der Verein zählt jetzt 80.000 Mitglieder. Der nächste Schritt ist die Gründung einer Allukrainischen Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter*innen.

 

Neue Perspektiven durch internationale Kooperation

 

Beim Treffen mit dem Jugendverband der FPU wurde berichtet, dass die niedrigen Löhne eines der größten Probleme für junge Menschen in der Ukraine sind. Viele wollen die Ukraine deshalb verlassen und nach Polen gehen. Es sei schwer sie zu überzeugen, dass sie zurückkommen sollen. Großes Interesse besteht an anderen gewerkschaftlichen Konzepten wie Organizing. »Früher oder später werden wir in der EU sein, deshalb ist es gut, früh zu lernen, wie die Dinge laufen«, sagte die Vorsitzende des Jugendverbandes.

Egal ob FPU, unabhängige Eisenbahner*innengewerkschaft oder Initiativen im Gesundheitsbereich: Man will raus aus dem sowjetischen Mief und beim Wiederaufbau mitreden können. Wie andere osteuropäische Länder vor ihnen erhoffen sich die Menschen von einem Beitritt zur EU einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung mit höheren Löhnen, besserem Arbeitsschutz, geregelten Arbeitsbeziehungen, Rechtsstaatlichkeit, einem funktionierenden Sozialstaat – und wirtschaftlicher Hilfe.

Allerdings sind die politischen und wirtschaftlichen Umstände heute sehr viel andere als Anfang der 90er Jahre. Zu Recht sind viele der Auffassung, dass die Soldaten an der Front und Beschäftigte die größte Last des Krieges tragen, während die Reichen sich ins Ausland absetzen. Wir tun gut daran, uns auf eine große Stärke der Gewerkschafts- und Arbeiter*innenbewegung zu besinnen. Sie heißt internationale Solidarität.     

 

gewerkschaftliche-ukraine-solidaritaet.de

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46