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Schwerpunkt "Schule neu denken"

Gute Bildung in Zeiten multipler Krisen

Komplexität, Unübersichtlichkeit und Ungewissheit prägen unsere Zeit. Schule muss sich mit den Problemen und Veränderungsprozessen auseinandersetzen.

Foto: Adobe Stock

Für den Umgang mit Krisen und Veränderungen brauchen Kinder, Jugendliche und Erwachsene bestimmte Kompetenzen, wie Anpassungsfähigkeiten und psychische Widerstandskraft (Resilienz). Im Schulkontext kommt dabei insbesondere drei Bereichen eine zentrale Bedeutung zu: der Gestaltung von Beziehungsarbeit und eines gesunden Schulalltags sowie der Stärkung von Selbstwirksamkeit und demokratischem Handeln.

Um mit den Herausforderungen des Lebens zurecht zu kommen, brauchen Menschen unter anderem stabile, unterstützende und zugewandte emotionale Beziehungen. Das soziale Umfeld und auch die Schule können einen erheblichen Beitrag leisten. Dafür muss Schule sich als einen Ort des Zusammenkommens und des Gestaltens von zwischenmenschlichen Beziehungen begreifen. Im Idealfall begegnen sich die Menschen dort offen, empathisch, respektvoll, wertschätzend. Mit den Bedürfnissen aller wird achtsam umgegangen und es wird lösungsorientiert kommuniziert. Jene, die Unterstützung benötigen, erhalten diese in empowernder Weise. Alle Sprachen, die in der Schulgemeinschaft präsent sind, werden gesprochen – es gibt ein multilinguales Miteinander. Abwertungen, Diskriminierungen, Gewalt bekommen keinen Raum. Kommt es doch dazu, wird dem professionell begegnet.

Durch einfühlsame Beziehungen können Kinder ihre individuellen Fähigkeiten entwickeln und auch den Mut, sich in die Gesellschaft einzubringen und eine nachhaltige Zukunft mitzugestalten. Es lässt sich nicht leugnen, dass Beziehungsarbeit große Anstrengungen erfordert. Bisher wird hierauf nicht vordergründig der Fokus gelegt. In Anbetracht der immer größer werdenden Klassen und Gruppen im Ganztag ist das auch wirklich kein Zuckerschlecken. Lehrkräfte und Kinder hetzen durch den Stunden- und den Rahmenlehrplan und in den Pausen durch die langen Schulflure. In den Grundschulen müssen Erzieher*innen im Ganztag große Gruppen betreuen. Alle leiden unter Stress

 

Die Schule als Dorf begreifen

 

Ein bekanntes nigerianisches Sprichwort besagt: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.« Wir müssen die Schulen als Dorf denken, in dem sehr viele Menschen mit unterschiedlichen Professionen, Kompetenzen und Perspektiven auf Augenhöhe zusammenwirken, um die Kinder und Jugendlichen auf ihren Wegen bestmöglich zu begleiten und zu unterstützen. Die Schule muss als Ganzes gesehen werden und alle in der Schule müssen gesehen werden. Strukturell muss der Ganztag dringend aufgewertet, der Personalschlüssel dort deutlich verbessert werden. Für jede Lerngruppe bräuchte es ein multiprofessionelles Team, welches die Kinder gut kennt, mit ihnen über einen längeren Zeitraum arbeitet und sie in verschiedenen Bereichen begleitet. Dazu gehört eine verlässliche Ausstattung mit Schulgesundheitskräften, Schulassistent*innen für Kinder mit Unterstützungsbedarf, Sekretär*innen und Verwaltungsleitungen, schuleigenen IT-Expert*innen sowie Medienbildner*innen und vielen mehr.

Aber auch die Elternarbeit und die Vernetzung in das jeweilige Schulumfeld sind von großer Bedeutung. Akteur*innen aus den Sportvereinen, von den Musikschulen, aus der politischen Bildung könnten langfristig in die Schulentwicklung eingebunden werden und eine vielfältige Bandbreite an Beziehungsangeboten herstellen, wenn dafür ein verlässlicher finanzieller Rahmen da wäre.

 

Gesunder Schulalltag für alle

 

Um Verbesserungen umzusetzen, müssen sich die Rahmenbedingungen in Schule auf vielen Ebenen grundlegend ändern, sodass Kinder und Erwachsene einen gesunden Schulalltag erleben. Erstens brauchen Pädagog*innen Ressourcen, um die pädagogischen Beziehungen positiv zu gestalten. Sie müssen selbst raus aus der Überlastungsspirale, sich in ihrem Schulalltag wirksam fühlen, im Kollegium Wertschätzung erleben und von der Leitung als Menschen mit Bedürfnissen gesehen werden. Dazu gehört auch, dass Sitzungen und Besprechungen effizient gestaltet sind und Menschen mit familiärer Verantwortung diese ohne Druck wahrnehmen können sowie eine achtsame Sitzungskultur, die nicht nur die Lauten zu Wort kommen lässt.

Aus den menschenzentrierten New Work-Ansätzen lernen wir, wie gut sich Kleinteams effizient selbst organisieren und ihre Arbeit so einteilen, dass sich alle gut damit fühlen. Sie arbeiten deutlich selbstbestimmter und sind zufriedener. Agile Schulentwicklung hat ihre große Stärke in der Schulentwicklung von unten. Im ersten Schritt heißt Leiten dann eher Begleiten, im zweiten Schritt Loslassen und Vertrauen. Das kreative Chaos gilt es, als Zwischenstufe zu erkennen und zuzulassen. Es funktioniert, da alle in der Regel ihre Arbeit gut machen wollen.

Neben diesem Aspekt sind auch die Räume, in denen wir arbeiten, von Bedeutung. Sie sollten sauber sein und eine freundliche, wertschätzende Atmosphäre ausstrahlen, sodass sich alle dort wohl und gut aufgehoben fühlen. Es braucht Räume mit unterschiedlichen Funktionen, zum Beispiel große Räume für das Plenum und noch größere für Schulveranstaltungen, verschiedene kleine Räume – manche für die Gruppenarbeit, manche zum Ausruhen, manche für Bewegung.

Gesundheit in den Blick zu nehmen, heißt natürlich auch, auf das psychische, soziale und körperliche Wohlbefinden von jungen Menschen zu achten. Viele junge Menschen sind sehr belastet durch die vielen Krisen. Allen muss klar sein: Wem es psychisch oder körperlich schlecht geht, wer Probleme im Freund*innenkreis oder in der Familie hat, wer Angst vor Mobbing in der Klasse hat, wer merkt, dass die Eltern bei jedem Einkauf den Euro zweimal umdrehen, ist häufig nicht so gut in der Lage, Neues aufzunehmen und zu lernen. Der Modus heißt dann schlicht: den Tag »überleben«. Es müssen Wege gefunden werden, um den Druck, zu funktionieren und ständig etwas leisten zu müssen, herauszunehmen.

 

Räume für Selbstwirksamkeit schaffen

 

Wenn wir uns die eingangs skizzierte Gemengelage vor Augen führen, muss das Lernen anders organisiert werden, sowohl inhaltlich als auch von den Formen. Bildung sollte vor allem Räume für Reflektion und Selbstwirksamkeit schaffen.

Da jegliche Information innerhalb kürzester Zeit im Worldwide Web gefunden werden kann und Künstliche Intelligenzen mittlerweile komplexe Informationen weiterverarbeiten können, muss es in der Schule vor allem um den kompetenten und kritischen Umgang mit Informationen und die Einordnung von Wissen gehen sowie das Verstehen von Prozessen, und nicht um die Vermittlung von Faktenwissen. Lerninhalte sollten sich an der Welt von heute, in der so viele Herausforderungen gemeistert und Lösungen für komplexe Problemlagen gefunden werden müssen, orientieren. Zum Beispiel: Aus welchen Fehlern in der Vergangenheit, auf die es im Übrigen auch sehr unterschiedliche Perspektiven geben kann, können wir lernen, damit wir die Dinge in der Heute-Welt anders angehen?

Auch die kritische Analyse von Machtverhältnissen, eigenen Privilegien oder Nachteilen im Kontext der globalen Ungerechtigkeit sollte dabei eine Rolle spielen sowie Zusammenhänge der ökonomischen Wachstumsmaxime und der Ausbeutung unseres Planeten. Alternativen wie solidarisches Wirtschaften, Kreislaufwirtschaft und andere sollten thematisch einfließen, Perspektiven für ein gutes und gerechtes Miteinander aufgezeigt werden.

Bei den Lerninhalten lohnt ein Blick über den nationalen Tellerrand. Singapur setzt einen Schwerpunkt auf die Werte Respekt, Resilienz, Gemeinwohlorientierung, Fürsorge und kritisches und erfinderisches Denken. Und in Neuseeland steht Outdoor Education auf dem Stundenplan. Neben der Bewegung und dem Naturerfahren geht es um das Miteinander und die Stärkung der Schüler*innen.

Das Gute ist: Wir müssen nicht bei null anfangen. Der Bildungsauftrag im Berliner Schulgesetz und auch der Teil B des Berliner Rahmenlehrplans mit den fachübergreifenden Themen enthalten bereits jetzt sehr gute Ansätze, die im schulischen Alltag mehr Bedeutung erlangen könnten. Vielleicht kämen wir weiter, wenn es weniger um das Erreichen der Lernziele in den jeweiligen Fächern ginge? Hier braucht es ein Umdenken auf der einen Seite und veränderte Vorgaben auf der anderen Seite!

Neben den Inhalten sind auch die Lernformen zu überdenken. Es braucht viel mehr Zeiten in der Schule, in denen ohne Leistungsbeurteilung vor allem Lernprozesse und die Persönlichkeitsentwicklung im Zentrum stehen. Bewegung und Kreativität sollten integraler Bestandteil jeden Schultags sein. Andere Prüfungsformate müssen her. Schulen sollten vorrangig ihren Auftrag im Empowerment von Kindern haben und weniger darin, Leistungen abzufragen und zu bewerten. Lernen sollte selbstbestimmter und kooperativ stattfinden, Entscheidungen sollten partizipativ getroffen werden – nicht nur in Gremien, sondern jeden Tag. Demokratie muss gelebt werden! Es gibt eine starke Wechselwirkung von Partizipation und dem Gefühl von Selbstwirksamkeit. Mitbestimmung regt komplexe Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern an, fördert neben Selbstwirksamkeit auch Autonomie, den realistischen Weltbezug und prosoziale Beziehungen. Vor allem das Wissen, etwas bewirken zu können, kann einen Beitrag leisten gegen antidemokratische Tendenzen in unserem Land und auch gegen Gewalt. Natürlich reicht es nicht, wenn wir in den Schulen umdenken und im Drumherum ändert sich nichts. Im Zuge der sozial-ökologischen Transformationen kommen wir nicht umhin, von bisherigen Konzepten des wachstumsfokussierten Wirtschaftens und Arbeitens Abstand zu nehmen. Neben der Transformation von klima- und sozialschädlichen Unternehmen und Tätigkeiten müssen Arbeitnehmer*innenrechte und demokratische Partizipation gestärkt werden. Gesellschaftliche Bereiche, in denen sich um das Wohl von Menschen gekümmert wird und ihre Weiterentwicklung begleitet wird – wie Kitas, Schulen, Jugendhilfe, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser und auch private Care-Arbeit – müssten eine massive Aufwertung erfahren. Nur so lassen sich auch Wege aus der Fachkräfte-Krise finden, und wenn wir es gut machen, vielleicht auch aus ein paar anderen Krisen.

 

Inspirationen zum Weiterdenken/QR-Codes:

 

Teachers for future-Tagung: https://tagung2023.teachersforfuture.org/

Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung: https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung

Interview mit Al Mafaalani: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/aladin-el-mafaalani-multiprofessionelle-teams-mit-einer-halben-stelle-zusaetzlich-fuer-schulsozialarbeit-ist-es-nicht-getan/

Reckahner Reflexionen: https://paedagogische-beziehungen.eu/leitlinien/

Projekt Empathie macht Schule

Schule im Aufbruch: https://schule-im-aufbruch.de/

Fortschrittliche Formate wie FreiDay https://frei-day.org/der-frei-day/lernformat/

Projekt Herausforderung: https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/projekt-herausforderung-eine-innovative-idee-macht-schule/

OECD-Lernkompass/ 21st century skills: https://www.oecd.org/education/2030-project/contact/OECD_Lernkompass_2030.pdf

Buurtzorg: https://www.buurtzorg.com/

 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46