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Tendenzen

»Ich bin chronisch neugierig«

Sham Jaff kuratiert wöchentlich den Newsletter »what happenend last week – in Asia, Africa and the Americas« und beschäftigt sich in ihrer journalistischen Arbeit mit konstruktiver Berichterstattung, fokussiert auf den Globalen Süden. Sie spricht über Eurozentrismus in der Bildung und wie Wissenslücken gefüllt werden können.

Foto: Adobe Stock

bbz: Was fehlt in der Allgemeinbildung in Deutschland?

 

Jaff: Ich kann mich diesbezüglich nur auf meine eigenen Erfahrungen während meiner Schuljahre beziehen, aber ich erinnere mich an eine sehr breit gefächerte Bildung, die ich genossen habe. Sie hat mir das Gefühl gegeben, dass ich sehr viel über europäische und US-amerikanische Geschichte gelernt habe, aber leider nicht wirklich etwas über den Rest der Welt. Das war im Gymnasium und später an der Uni so, obwohl ich Politikwissenschaft und Philosophie gelernt habe. Es hat sich gesellschaftlich etabliert, dass wir nur über diese Teile der Welt sprechen. Eine Konsequenz daraus war, dass ich mir anderes Wissen selbst aneignen musste. Durch Zusatzqualifikationen außerhalb der Schule, außerhalb der Uni. Ich habe mir eine eigene Literaturliste angefertigt, mit allem, was ich noch nicht wusste und was noch keinen Sinn für mich machte. Ich habe mich gefragt: Was ist in derselben Zeit in China passiert, was in Brasilien? Es gab einfach sehr große Lücken, die ich bemerkt habe, und ich glaube, das ist leider immer noch so.

 

Nimmst du Veränderungen dahingehend wahr?

 

Jaff: Die heutige Diskussion rund um Schulfächer und Bildung vereinbart neu, was dazugehören sollte. Es gibt sehr viele Gruppen, die sich für Dekolonisierung einsetzen und dafür, dass die deutsche Kolonialgeschichte mehr Einzug findet in den Schulplan. Das freut mich total, weil es genau diese Themen sind, mit denen viele Menschen momentan überfordert sind. Als Journalistin muss ich die Sachen, die ich mir selbst erarbeite, Leuten erklären können. Das funktioniert oft sehr gut, wenn es Vorwissen aufseiten der Lesenden gibt. Dann können wirklich neue Synergien geschaffen werden. Ich will super gerne weiter über die Grundlagenarbeit hinaus arbeiten und nicht mehr bei »Was war eigentlich die deutsche Kolonialgeschichte?« anfangen, sondern die Steigbügel weiter stellen und darüber hinwegspringen. Dann könnten wir besprechen, was wir in der Gegenwart tun können, um die Ungerechtigkeiten, die wir damals in anderen Ländern verursacht haben, aufzuarbeiten. Diese wichtigen Diskussionen finden aufgrund der fehlenden Grundlagenbildung einfach sehr viel langsamer statt. Aber ich bin froh darüber, dass immer mehr Gruppierungen sichtbarer werden in den Medien, dass die Sensibilisierung dafür beginnt. Es gibt Lücken, aber auch eine Bereitschaft, diesen Themen im Bildungsprozess mit Offenheit und einer gewissen Verantwortung gegenüberzutreten.

 

Die Räume, über die wir sprechen, entspringen einer europäischen Vorstellung von Wissen, indem akademisches Wissen wert- und andere Formen der Wissensgenerierung geringgeschätzt werden. Ist es überhaupt möglich, innerhalb dieser Institutionen wie der Schule oder der Universität Lehrpläne zu dekolonisieren?

 

Jaff: Es kann nicht den einen Raum geben. Wir haben es mit einer imperfekten Realität zu tun und sie wird immer imperfekt bleiben. Das Klassenzimmer ist nur einer von vielen verschiedenen Räumen, um diese ganz großen Wissenslücken aufzufüllen und konstruktiver über Fakten zu sprechen. Das bedeutet, Wissensschaffende müssen sich selbst kritischer reflektieren. Wir können sagen: Okay, so haben wir damals darüber geredet, lasst uns das auf den Kopf stellen und von anderen Perspektiven betrachten. Das ist Teil einer größeren Reflektion, bei der natürlich Lehrende und Lernende als auch Politiker*innen und Gewerkschaften mit dran rütteln müssen. Sie müssen dafür sorgen, dass diese Diskussionen irgendwann tiefer gehen als »Ach stimmt, Namibia, da war doch mal was«. Das ist ein persönlicher Wunsch von mir, dass wir das angehen und nicht wieder bei Null anfangen.

 

Teil dieses Reflektionsprozesses ist es, zu hinterfragen, wer die Rolle der lehrenden und der lernenden Person einnehmen darf. Wie können in Uni- und Schulkontexten diese Zuschreibungen aufgebrochen werden, um voneinander lernen zu können?

 

Jaff: Ich glaube, dass es eine sehr große Chance sein kann für lehrende Personen in solchen Institutionen, sich mit den Plattformen zu beschäftigen, auf denen sich die Kinder und Jugendlichen normalerweise aufhalten. Was passiert auf TikTok, welche Inhalte gehen da viral, über welche Themen wird in den Instagram-Lives gerade gesprochen? Um mitzubekommen, was an Inhalten konsumiert wird und um zu versuchen, diese Inhalte mit den Lebensrealitäten der Schüler*innen oder Student*innen zusammenzudenken. Damit lernende Personen nicht in die Schule gehen und das Gefühl haben, sie lernen fast schon outdated stuff und danach gehen sie auf Instagram und hören einer unglaublich interessanten Instagram-Live-Debatte zu, die nirgendwo sonst behandelt wird. Es gibt Stimmen auf diesen Plattformen, denen ich vertraue, bei denen ich mitlesen möchte und die mir Inspiration geben zum Weiterlesen, zum Weiterbeschäftigen. Ich glaube, das anzuerkennen, das in den Unterricht zu integrieren und auf gleicher Höhe zu betrachten, ist ebenso wichtig, wie das Schulbuch zu durchforsten. Menschen wie Sinthujan Varatharajah und Moshtari Hilal oder andere Bildungsaktivist*innen ins Klassenzimmer einzuladen. Im Journalismus macht man das so, dass man Leute einlädt und sagt, übt mal Kritik an unserem Blatt. Was könnten wir besser machen? Was läuft falsch? Ich glaube, so könnte Fortschritt stattfinden.

 

Welche Rolle spielen soziale Medien in politischer Bildung?

 

Jaff: Social Media spielt eine sehr große Rolle für meine Arbeit, aber auch für mein eigenes Leben. Ich bin privat viel auf Instagram unterwegs und hole mir dort sehr viel Inspiration, Meinung und Haltung von Personen, die nicht in den großen Medienhäusern und Institutionen vertreten sind. Daher bin ich sehr froh, dass sich diese Türen geöffnet haben und alternative Plattformen entstanden sind. Wenn Kritik an Social Media geübt wird, dann geht es oftmals um deren Struktur und als Journalistin mache ich mir schon manchmal Sorgen. Es gibt Desinformationskampagnen. Wenn es nicht gezielte sind, dann sind das manchmal einfach aktivistische Accounts, die teilweise falsche oder unvollständige Informationen posten. Die zum Beispiel Bilder aus Archiven holen und die Quelle nicht angeben oder nicht in den jeweiligen historischen Kontext einbetten. Ich komme aus der kurdischen aktivistischen Szene, war viel in Bildungskontexten unterwegs, und es ging mir vor allem darum, dass Jugendliche mehr über die eigene kurdische Geschichte lernen können. Wir haben uns damit beschäftigt, woher die Bilder kommen, die gerade präsent sind. Viele Inhalte werden veröffentlicht ohne Peer-Review-Verfahren, also ohne dass andere Personen, die sich mit dem Thema beschäftigen, sie überprüfen. Das birgt große Gefahren. An einem journalistischen Text arbeiten verschiedene Menschen mit, bei Social Media ist diese Transparenz nicht gegeben. Da viele Menschen Nachrichten und Bildung über die Welt durch Inhalte auf diesen Plattformen bekommen, muss darüber diskutiert werden.

 

Bei vielen technischen Neuerungen schwanken Menschen zunächst zwischen utopischer Romantisierung und vorschneller Verteufelung. In einem digitaler werdenden Klassenzimmer und mit dem Aufkommen von KI-Tools, sollten Schüler*innen im Unterricht lernen, wie man digitale Räume navigiert?

 

Jaff: Social Media ist ein Tool. Es ist nicht per se schlecht oder gut, man kann es für unterschiedliche Zwecke einsetzen. Ich sehe bei Social Media eher die Möglichkeit aufzuzeigen, was schiefläuft und gleichzeitig wie es besser laufen könnte. Bei etablierten Medien gibt es ein ganz anderes Business-Modell, das eher auf Klickzahlen abzielt. Negative Gefühle wie Angst und Panik und Verzweiflung verleiten dazu, mehr zu klicken. Sowohl Schüler*innen als auch Erwachsene sollten wissen, wie Wissen hergestellt wird, und ein Gefühl dafür bekommen, was ein gutes Wissensprodukt für sie ist. Es ist schlussendlich ein Produkt, es wird hergestellt. Mit den Jahren habe ich mir eine Art Vertrauensvorschuss von meinen Leser*innen erarbeitet. Trotzdem ist es wichtig, dass sie selbst Dinge kritisch hinterfragen und nachrecherchieren. Es ist unumgänglich, dass Menschen ihre eigenen journalistischen Skills entwickeln. Da fungiert die Schule einfach als Experimentierort für kritische Selbstreflektion, für Fact-Checking, für den Umgang mit den Medien.

 

Du versendest seit neun Jahren den Newsletter »What happened last week«. Was war deine Motivation, dieses Projekt zu starten und welche Gründe sind es heute, die dich dazu motivieren es fortzuführen?

 

Jaff: Ich habe schon während des Studiums gemerkt, dass wir immer wieder über Perspektiven sprechen, die von einem Teil der Erde stammen und wenn wir über alle anderen Regionen reden, dann ist es ein Blick auf die Geschehnisse dort, der sehr weiß ist. Mir hat einfach ein nichtweißer Blick auf andere Regionen der Welt gefehlt. Ich habe 2014 angefangen, den Newsletter zu schreiben als eine Art Zusatzangebot. Nach ein paar Monaten hat sich gezeigt, dass er sehr schnell an Leute geschickt wird und Leute ihn lesen oder mir schreiben, dass sie dadurch Nachrichten aus anderen Regionen empfangen. Das war die Motivation dafür, mir jede Woche die Aufgabe zu geben, genau in die Richtung zu gucken, in die andere Medien nicht schauen. Damals war es eine strengere Kuration, jetzt ist es vielmehr auf den Globalen Süden fokussiert und ich traue mich, sarkastischer zu schreiben. Dadurch verstehe ich den Newsletter weniger als Nachrichten-Seite, sondern eher als eine E-Mail von mir an dich mit Themen, die du gerade auf dem Schirm haben könntest.

 

Du bekommst sehr viel Feedback von Leser*innen zu der Sprache, die du in deinem Newsletter benutzt. Es geht häufig darum, welche Begriffe du nutzt, wie du Regionen und Länder beschreibst und welche deiner Bezeichnungen von der Sprache anderer Medien abweichen. Ist Sensibilisierung immer verknüpft mit einer Präzision der Sprache?

 

Jaff: Vor allem mit der Beschäftigung mit Sprache. Ich glaube, etwas präzise zu beschreiben, ist ein sehr mühsamer Prozess. Ich habe nicht alle Weisheiten der Welt in mir vereint, ich bin chronisch neugierig. Ich sage immer: a strong belief loosely held. Also, ich habe sehr starke Überzeugungen, aber wenn du Informationen hast, die ich noch nicht hatte, dann höre ich dir zu und integriere das in meine Perspektive. Ich bin offen für den Prozess der Sensibilisierung und des an die eigenen Grenzen Gehens. Allein schon die Tatsache, dass ich an einer westlichen Institution ausgebildet wurde, dass ich hier gelebt habe, hat Einfluss auf mich, obwohl ich woanders geboren bin und andere Freund*innen habe als der*die Durchschnittsredakteur*in bei einem etablierten Medienhaus. Aber natürlich bin ich von meiner Umgebung beeinflusst, habe einen bestimmten Blick auf Sachen, und mir macht es Spaß, mich öffentlich herauszufordern, anders zu denken. Meine Leser*innen fühlen sich – wie auch ich – manchmal überfordert mit dieser schnellen Welle an Informationen, die auf sie zukommt. Ich glaube, erst, wenn man sich eingesteht, dass man herausgefordert wird und versucht, vorhandenes Wissen aufzubrechen, anstatt Haltungen einfach von Instagram zu übernehmen, bilden sich stabile Überzeugungen. Das ist ein längerer Prozess, und manchmal findet man heraus, dass man jahrelang etwas vertreten hat, an dem man nicht länger festhalten möchte. Genau diese Entwicklungen möchte ich sichtbar machen. Ich will in diese Werkstatt die Fenster einbauen, die Licht ins Dunkel bringen.

 

In ihrem wöchentlich erscheinenden Newsletter »What happend last week« kuratiert Sham Jaff Stimmen, Nachrichten und Perspektiven aus dem Globalen Süden.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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