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Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit

Kita-Träger im Dilemma

Berlinweit gibt es zu wenige Kita-Plätze, um alle Kinder zu versorgen. Welche Faktoren dazu führen, dass insbesondere Kinder von Eltern mit Zuwanderungsgeschichte benachteiligt werden, zeigt die Studie des FiBs RILLL Research Institute on Lifelong Learning gGmbH in Kooperation mit Kita-Stimme.Berlin.

Foto: Adobe Stock

Ein großer Teil der Dritt- und Acht-Klässler*innen in Berlin hat Defizite im Lesen, Schreiben und Rechnen. Neben den bekannten Problemen im Berliner Schulsystem und der Corona-Pandemie ist dies auch eine Folge des unzureichenden Angebots an Kita-Plätzen. Dies kann man an verschiedenen Bildungsstudien ablesen. Dabei hat Berlin sein Kita-Angebot in den letzten Jahrzehnten deutlich ausgebaut. Gingen 2006 rund 105.000 Kinder in eine Kita, waren es im vergangenen Jahr fast 175.000. Dennoch bekommen viele Kinder keinen Platz: Nach der Kinderbetreuungsstudie (KiBS) des Deutschen Jugendinstituts bekunden in Berlin annähernd 100 Prozent der Eltern von 3- bis 5-jährigen Kindern sowie 61 Prozent von unter Dreijährigen einen Platzbedarf. Jeweils ohne nennenswerte Unterschiede zwischen Eltern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Stattdessen betrug die Besuchsquote im Jahr 2021 bei den 3- bis 5-jährigen Kindern 91 Prozent, bei den unter Dreijährigen 45 Prozent. Gegenüber dem Elternbedarf ergibt sich somit eine Lücke von 9 beziehungsweise 17 Prozentpunkten. In Plätzen ausgedrückt entspricht dies rund 25.000 Plätzen, die zusätzlich erforderlich wären. Auffallend ist auch die hohe Zahl der Kinder im Schulalter, die »noch« in einer Kita sind: Rechnerisch ist es knapp die Hälfte des Altersjahrgangs der Sechsjährigen, bei steigender Tendenz. Auch wenn dies nicht nur »Zwangsrückstellungen« sind, verringert sich dadurch das für Neubelegungen verfügbare Platzangebot.

Bedarf und Angebot driften weit auseinander

Betrachtet man die Besuchsquoten in Abhängigkeit vom Migrationsstatus des Kindes, dann gehen nahezu alle 3- bis 5-jährigen Kinder ohne Migrationshintergrund in die Kita, gegenüber weniger als 85 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund. Bei den unter Dreijährigen betrug die Besuchsquote landesweit 55 Prozent bei den Kindern ohne und 33 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund. Angesichts nahezu identischer Betreuungswünsche der Eltern verteilt sich die Deckungslücke ungleich auf Kinder aus Familien mit und ohne Zuwanderungsgeschichte – erstere haben eine Deckungslücke von 17 Prozent bei den 3- bis 5-Jährigen und von rund 28 Prozent bei den unter Dreijährigen, gegenüber Null Prozent beziehungsweise fünf Prozent. Die Ursachen für diese Unterschiede sind vielfältig: Während sich viele Eltern bereits sehr frühzeitig – gegebenenfalls schon vor der Geburt – darum kümmern, kommen andere erst kurz vor Toresschluss. Also nach Beginn des Kita-Jahres oder, wenn die Kinder vier oder auch fünf sind, und der Schulbesuch kurz vor der Tür steht, und das Kind unter Umständen noch kaum deutsch spricht. Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Bildungshintergrund der Eltern, die Zuwanderungsgeschichte und unterschiedliche Familientraditionen.

Produktives Handeln entscheidet über Platzvergabe

Die Studie zeigt, dass Kitas sehr unterschiedliche Anmeldeverfahren haben, die aber eine Gemeinsamkeit haben: Es wird von Eltern ein langatmiges, proaktives Handeln abverlangt. Aufgrund der nach wie vor großen Nachfrage nach Kitaplätzen besteht für Leitungen und Träger nicht die Notwendigkeit, die Zusammenstellung des Bewerber*innenpools zu hinterfragen, sondern sie entscheiden auf Basis der vorliegenden Anmeldungen. Auch müssen Kitas nicht um Kinder werben, um leere Plätze zu füllen, sondern können aus einer Überzahl an Anmeldungen auswählen. Für Eltern, die kaum Deutsch sprechen, kommt hinzu, dass Informationen wie Anmeldeformulare meist nur auf Deutsch verfügbar sind. Daher sollte der Kitanavigator um mehrere Sprachen und Funktionen erweitert werden, um die Realität besser abzubilden und das digitale Anmeldeverfahren zu verbessern. Gleiches gilt hinsichtlich der eigenen Anmeldeverfahren der Träger. Geht es um die Zusage, welche Kinder einen Platz erhalten, werden Geschwisterkinder oder Kinder von Mitarbeiter*innen der Einrichtung priorisiert. Unter Umständen ist damit das Platzkontingent bereits ausgeschöpft. Daneben nutzen die Kitas sehr unterschiedliche Kriterien, die bisweilen direkt oder indirekt auch diskriminieren. Wenn Kitas einen Vollzeitplatz zu besetzen haben, scheiden alle Kinder aus, die einen Teilzeit-Gutschein haben. Sofern dies öfter die Kinder von Eltern mit Zuwanderungsgeschichte trifft, führt dies indirekt zu ungünstigeren Chancen auf einen Kita-Platz. Da zudem die große Masse der Plätze zu Schuljahresbeginn belegt wird, kann ein Platz danach nur belegt werden, wenn einer frei geworden ist. Dies ist auch dann ein Problem, wenn Familien neu nach Berlin ziehen oder Eltern dies nicht auf dem Schirm haben.

Daneben verlangsamen Bürokratiehürden und mangelnde Finanzen den Bau neuer Einrichtungen – zudem können physisch vorhandene Plätze aufgrund des Fachkräftemangels nicht bespielt werden. Für zeitintensive Elternarbeit, um etwaige Berührungsängste von Familien abzubauen, diese im Umgang mit Bildungsinstitutionen pädagogisch zu begleiten oder sich von Einrichtungsseite aus aktiv in den Sozialraum zu öffnen und in ein Einladungswesen überzugehen, fehlt Kitas oft das Personal. Um mittelfristig mehr Personal qualifizieren zu können, braucht es neben entsprechenden Ausbildungskapazitäten auch bessere finanzielle Bedingungen, die den Beruf für (Quer-) Einsteiger­*innen attraktiver werden lassen. Ob Kita-Gutscheine bei der Platzvergabe eine Rolle spielen oder nicht, konnte die Studie nicht abschließend klären: Während die Interviewten dies nicht sahen, gibt es aus anderen Kontexten gegenteilige Informationen. Allerdings liegt es nahe, anzunehmen, dass der Stundenumfang oder andere Faktoren des Kita-Gutscheins Einfluss auf die Vergabe der Kita-Plätze nehmen. Damit stellt sich zugleich die Frage nach den Vergabekriterien bezüglich des zeitlichen Umfangs. Obwohl unter Umständen ein Ganztagsgutschein aus pädagogischen Gründen notwendig wäre, erhalten oft Eltern mit Zuwanderungsgeschichte, die nicht oder nur geringfügig beschäftigt sind, einen Teilzeit-Gutschein für ihre Kinder.

Die Bildungsschere weitet sich aus

Und damit kommen wir zum großen Ganzen: Studien belegen deutlich, dass nicht nur der Kita-Besuch an sich, sondern neben der guten pädagogischen Qualität auch die Dauer eine wichtige Rolle spielt: Konkret sollten Kinder mindestens drei, besser vier oder fünf Jahre und möglichst viele Stunden pro Tag oder Woche in die Kita gehen. Das gilt für Kinder mit Zuwanderungsgeschichte oft noch etwas mehr als für Kinder ohne – insbesondere, wenn in der Familie vorrangig nicht Deutsch gesprochen wird. Wenn aber der Stundenumfang vor allem vom Erwerbs- oder Ausbildungsstatus der Eltern abhängig ist, und allenfalls am Rande von pädagogischen Kriterien, dann folgt daraus zwangsläufig: Bildungsnahe Eltern bekommen eine höhere Zuteilung als andere Eltern. Als Folge weitet sich die Bildungsschere, statt sich zumindest zu verringern. Es ist daher unabdingbar, dass der Kitaplatz-Ausbau schnellstmöglich vorangetrieben wird, um möglichst viele Kinder frühzeitig zu erreichen. Daneben darf auch die Sprachförderung, die eigentlich Aufgabe der Länder ist, nicht eingeschränkt und die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte müssen deutlich verbessert und die Ausbildungskapazitäten weiter erhöht werden.

Zur Studie »Entwicklung frühkindlicher Bildungsbedarfe in Berlin: Von der Anmeldung zur Zusage – ein Blick ins Nadelöhr«

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46