Tendenzen
Lebendige Erinnerungen an den Bau der Berliner Mauer
Wir haben beim Stammtisch für Ruheständler*innen nachgefragt, wie der Tag des Mauerbaus erlebt wurde.
Vom Westpol aus gesehen
von Ali Markgraf
Mehr als dreißig Jahre steht die Mauer nicht mehr. Und wir haben diesem Bauwerk Ewigkeitswerte zugeschrieben: »Nichts ist von Dauer, als die gute alte Mauer!«
Bekanntlich blickt jemand genau auf dem Nordpol stehend immer nach Süden, gleich wohin sich das Auge richtet. Auf dem Südpol ist es umgekehrt. Somit lebten wir West-Berliner*innen auf dem Westpol. Denn wohin auch immer wir über die Mauer blickten, wir schauten in den Osten. Denn Westpol-Bewohnende zu sein, das unterschied uns von allen anderen Menschen auf der Erde! Anlass, über die Mauer zu linsen, gab es nur bei auswärtigem Besuch, so alltäglich war uns dieses Bauwerk. Ich war in den Sommerferien 1961 wieder mal »verschickt«. Dieses Jahr war ich in einem Kinderheim in Natters, Tirol. Dort erreichte uns die Nachricht vom Mauerbau. Wir wurden dann mit dem Flugzeug zurückgebracht. Wir waren sehr enttäuscht, als uns die Erzieher*innen darüber aufklärten, dass es, trotz aller Schikanen und Sperrungen, Durchlässe für uns gäbe. Der Osten sank in unserem Ansehen noch weiter. Nicht mal die Grenzen richtig dicht machen konnten die!
An ganz wenigen Tagen unmittelbar nach dem 13. August, war es für WestBerliner*innen noch möglich, den Ostsektor der Stadt zu besuchen. Eine Freundin meiner Mutter hatte Verwandtschaft sowohl hüben als auch drüben. Zufällig war zu der Zeit großer Besuch aus Westdeutschland da, bei denen waren Kinder in den Pässen eingetragen. Die West-Berliner*innen brauchten nur ihre »behelfsmäßigen Personalausweise« vorzuzeigen, wenn sie die Grenze zum »Demokratischen Sektor« überschritten. In den Ausweisen waren keine Kinder vermerkt. Diese Tatsachen ausnutzend, fuhren größere und kleinere Gruppen mit mehr oder weniger Kindern, mal eingetragen, mal nicht, immer wieder über die Grenze. In den Taschen oder im Jackenfutter mit mehr Ausweisen und Pässen versehen, als Personen dabei waren. Zurück ging es mit der korrekt, in die Papiere, eingetragenen Personenzahl. Schließlich fehlte nur noch Großvater, das Familienoberhaupt, der alles eingefädelt und organisiert hatte. Doch der bekam im letzten Augenblick einen Nervenzusammenbruch, setzte sich in seinen Lieblingssessel und weigerte sich, mitzukommen. Den haben sie tatsächlich entführt, indem sie ihn mit hochprozentigem Alkohol abfüllten. Angewidert sollen die Grenzer ihn durchgewinkt haben.
Kein Entkommen
von Ulrike Niehues
Damals war ich neun Jahre alt. Unsere Verwandten väterlicherseits waren bereits nach Westdeutschland gezogen, nur die Eltern meiner Mutter wohnten noch in Berlin. So gab es bei uns ernsthafte Überlegungen ebenfalls Berlin zu verlassen. Diese Gedanken waren abrupt zu Ende, denn meine Mutter hat am 8. August 1961 meine Schwester entbunden und lag noch im Krankenhaus. Jeder Gedanke, Berlin schnell zu verlassen, bevor die Grenzen ganz dicht waren, war hinfällig. So war der Mauerbau für meine Familie sehr belastend. Und die Sorge, dass wir unsere Verwandten nicht mehr sehen können, war real und bedrohend.
Wenn wir später durch die Zone nach Westdeutschland fuhren, habe ich meinen Vater oft zu den Passkontrollen begleitet. Es war für mich aufregend und beängstigend zugleich: Keine*r redete ein lautes Wort, Flüstern war für mich gar nicht so einfach, jede Anweisung wurde umgehend befolgt, jedes Auffallen wurde tunlichst vermieden, absurd und angstmachend. Ein paar Jahre älter habe ich mich dann gefragt, wie kann es sein, dass ein Staat erwachsene, »gestandene« Menschen zu solch einem unterwürfigen Verhalten bringen kann?
Ende unseres Familienurlaubs
von Ursula Diedrich
Ich war damals neun Jahre alt. Mein Vater hatte über seinen Betrieb einen Urlaubsplatz erhalten. Wir fuhren also mit unserem alten DKW F7 zu viert an die Ostsee. Wir, das waren mein Vater, meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich. Als wir 14 Tage Urlaub in Ahlbeck verbracht hatten, wollten wir noch zwei Tage die Schwester meiner Mutter in Berlin-Weißensee besuchen. Wir kamen dort am 11. August 1961 abends an. Am nächsten Morgen fuhren meine Mutter, mein Onkel und ich mit der S-Bahn nach Gesundbrunnen, besuchten Geschwister meines Onkels und bummelten über eine Einkaufsstraße. Ich erinnere mich noch an viele bunte Petticoats, die vor Geschäften auf der Straße hingen. Am Abend saßen die Erwachsenen gemütlich beisammen und wir Kinder mussten ins Bett. Als ich am nächsten Morgen, aus dem Bad kam, saß mein Onkel vor seinem Radio im Wohnzimmer und weinte bitterlich. Er hatte sieben Geschwister, vier wohnten in West- und drei in Ostberlin. Meine Mutter versuchte zu erklären, was passiert war. Die Grenzen nach Westberlin waren geschlossen. Eine Mauer wurde gebaut. Für mich war das alles damals unverständlich. Mein Vater wurde immer unruhiger, drängte uns, die Sachen zu packen und schnellstens Berlin zu verlassen. Er redete von Unruhen und Krieg. Erst als wir den Berliner Ring verlassen hatten und auf der heutigen A9 Richtung Thüringen fuhren, wurde mein Vater ruhiger und sagte, dass wir jetzt erstmal sicherer wären.
Große Aufregung
von Monika Rebitzki
Mit der DDR verband ich nicht viel. Nur einen Vater, der mit ostjuristischem Beistand seinen Unterhaltsverpflichtungen für drei Kinder im Westen nicht nachkam. Ich bin in Hessen geboren und aufgewachsen, damals arbeitete ich aber in Düsseldorf in einem Krankenhaus. Eine der Köch*innen kam aus dem Urlaub mit ihrer kleinen Nichte aus Berlin zurück. Die sollte ein paar Tage bei ihr bleiben. Plötzlich war die Grenze zu! Die Aufregung war groß. Das Kind musste nach Berlin zurück, in den Ostteil der Stadt und zwar schnell. Elli bekam für beide einen Flug nach Berlin für den nächsten Tag. Das Rote Kreuz hatte die Aufgabe übernommen, die Rückführung der Kinder zu organisieren. Zu dem Vater gab es dann auch noch ein Nachspiel. Er kam als »politischer Flüchtling« durch einen Tunnel an der Bernauer Straße zurück in den Westen unter Hinterlassung weiterer Kinder in Ostberlin.
Wartezeiten und Panzer
von Reinhard Selka
Ich war mit meinen Eltern in Österreich im Urlaub, als die Mauer gebaut wurde. Mein Umzug nach West-Berlin stand unmittelbar bevor. In Bayern, wo wir seit unserer Flucht aus Ostberlin wohnten, war mir aus Altersgründen der weitere Schulbesuch verwehrt worden. In den ersten Tagen zeigte mir mein Neuköllner Großonkel gleich die nahegelegene Mauer von westlicher Seite, die andere Seite erlebte ich dank meines westdeutschen Ausweises danach monatlich anlässlich der Besuche bei meinen Großeltern am Grenzübergangsbahnhof Friedrichstraße. Dort mussten ein bis zwei Stunden Wartezeit eingeplant werden, egal, wie lang die Schlange war. Daran hat dann auch der Tränenpalast nichts geändert. Durch die Clayallee, in der ich wohnte, fuhren demonstrativ fast täglich Panzer zum Checkpoint Charly. Irgendwann kam auch mal der amerikanische Präsident Kennedy jovial winkend in Begleitung des stocksteifen Konrad Adenauer im offenen Wagen vorbeigefahren. Einige Studierende waren als Fluchthelfer*innen tätig. Sie kannten sich gut in der Kanalisation zwischen Ost und West aus. Sie wollten uns jedoch nicht an ihren Abenteuern beteiligen und sprachen ungern darüber. Einige Mitschüler*innen streunten damals gerne durch die umliegenden Villengrundstücke, deren Eigentümer*innen sich nach dem Mauerbau nach »Westen« abgesetzt hatten.
Kriegsangst
von Clemens Niehues
Am 13. August 1961 habe ich meinem Bruder geholfen, der am Wochenende an einem Strandbad als Parkplatzeinweiser arbeitete. Es war am Nachmittag, die ersten Gäst*innen verließen bereits das Bad, als ein Wagen auf den Parkplatz einbog. Bereits beim Aussteigen rief ein Fahrgast ganz aufgeregt: »Habt ihr schon gehört, die Russen machen Berlin wieder dicht!« Schnell bildete sich eine Gruppe von Badegäst*innen, der Mann berichtete von den »Typen«, die durch Berlin Stacheldrahthindernisse aufbauten. Es gab schnell zwei Themen, die heftig diskutiert wurden: Gibt es jetzt Krieg? Was kostet uns das wieder? Ich konnte nicht begreifen, was die Russen da machten.