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Schwerpunkt „Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen unter Druck“

Mit viel Herzblut und wenig Wertschätzung

Die Schulleiterinnen von zwei Oberstufenzentren Sozialwesen, Andreja Orsag (Ruth-Cohn-Schule) und Nicole Vielrose (Jane-Addams-Schule), berichten von einer geringen Auslastung der Klassen, dem Praxisschock und mangelnden Perspektiven für Erzieher*innen.

Foto: Jeannine Schätzle

bbz: Prognostisch benötigen wir im gesamten Bundesgebiet hunderttausende Erzieher*innen. Wie können auch die Berliner Fachschulen diesem Mehrbedarf gerecht werden?

Orsag: Wir haben viel Kapazität, aber seit Jahren rückläufige Bewerber*innenzahlen. Als der Boom vor circa zehn Jahren anfing und wir plötzlich viel mehr Schulplätze benötigten, haben wir sehr viel Kraft investiert, uns personell und räumlich auszustatten. Dann gab es eine unheilvolle Wendung, dass der Markt für Privatschulen sehr stark geöffnet wurde. Es gab eine wahre Explosion an neuen Privatschulen. Sie sind in einem Schnellverfahren genehmigt worden. Das hatte zur Folge, dass wir trotz dieser massiven Nachfrage oder des Bedarfs rückläufige Zahlen haben. Eigentlich könnten wir deutlich mehr Schulplätze anbieten, als wir es im Moment tun. Das ist eine absurde Situation.

Vielrose: Das kann ich nur bestätigen. In diesem Jahr werden wir gerade in den Vollzeitbildungsgängen wieder weniger Studierende haben. Im Jahr 2017 hatten wir acht oder neun Vollzeitklassen, die begonnen haben, und jetzt haben wir gerade vier zusammenbekommen.

Orsag: Bei uns war die Fachschule 17-zügig, jetzt haben wir elf Klassen. Das heißt, es sind massive Rückgänge von fast 50 Prozent. Das gilt für die anderen drei staatlichen Schulen in Berlin auch.

Wir würden gerne mehr Menschen ausbilden, weil wir dann auch qualifiziertes Personal haben, aber leider ist die politische Entscheidung in eine andere Richtung gegangen. Wenn fünf staatliche Schulen 41 privaten gegenüberstehen, ist es wohl gewollt, dass die Erzieher*innenausbildung nicht mehr in öffentlicher Hand bleibt, sondern komplett privatisiert wird. Das ist eine zunehmende Entwicklung wie auch in der Altenpflege. Das sehen wir als sehr problematisch an.

Inhaltlich versuchen Sie sicherlich gegenzusteuern, um das Profil der Schulen so auszurichten, dass es attraktiver ist als an Privatschulen?

Vielrose: Natürlich, aber der Rahmenplan beziehungsweise die Sozialpädagogik-Verordnung geben ja vor, wie ausgebildet werden soll. Ich vergleiche es manchmal mit »David gegen Goliath«. Die privaten Schulen werben damit, dass die Schüler*innen ein iPad geschenkt bekommen, das kann eine staatliche Schule nicht leisten.

Orsag: Die Attraktivität des Standortes ist ein wichtiges Thema. Aber man muss ehrlicherweise sagen, dass der Markt leer ist. Es gibt immer weniger Menschen, die Abitur oder Fachhochschulreife haben, die bereit sind, sich auf eine dreijährige Ausbildung ohne Bezahlung einzulassen und dann einen schlecht bezahlten Anschlussjob zu haben mit geringen Aufstiegschancen.

Die Schraube, an der man zu drehen hat, ist nicht bei uns in den Schulen, dass wir attraktiver werden, sondern der Beruf muss attraktiver werden. Und solange es keine bessere Bezahlung oder bessere Arbeitsbedingungen gibt, werden wir auch nicht mehr Erzieher*innen ausbilden können.

Wir haben eine Statistik über den Verbleib unserer Absolvent*innen. Die Zahl derer ist erschreckend hoch, die nach einem oder zwei Jahren den Beruf wieder verlassen. Weil sie es einfach nicht aushalten, weil sie doch lieber studieren oder einen ganz anderen Beruf ergreifen.

Vielrose: In den drei Jahren der Fachschule werden die Studierenden ja so vorbereitet, wie es eigentlich sein sollte. Sie gehen hoch motiviert in ihre Praktika und werden dann auf den Boden der Realität zurückgeholt. Voller Elan möchten sie mit den Kindern etwas mit Bewegung, Spiel, Sport machen, aber es gibt gar nicht die räumlichen Voraussetzungen in den Kitas. Das führt dann zu Frustration bei den jungen Leuten, die frisch und motiviert die Erzieher*innen-Ausbildung abgeschlossen haben.

Welche Erfahrungen haben Sie mit den verschiedenen Ausbildungsgängen – Vollzeit, Teilzeit – gemacht?

Orsag: Teilzeit und Vollzeit haben beide ihre Berechtigung. Diese Ausbildungsausrichtungen bedienen unterschiedliche Zielgruppen. Die Teilzeitausbildung oder berufsbegleitende Ausbildung macht eher Sinn für lebenserfahrene Menschen, die das Berufsleben schon kennengelernt haben und die die finanzielle Unterstützung benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist eine Doppelbelastung, sie haben an zwei Tagen sehr viel Unterricht, also praktisch zehn Stunden pro Tag und müssen dann wie ganz normale Arbeitnehmer*innen in der Praxis arbeiten.

Wir raten den jüngeren Leuten, die etwa Anfang 20 sind, eher zu der Vollzeitausbildung, bei der sie Praktika machen, wo sie verschiedene Berufsfelder kennenlernen und auch nicht so viel Verantwortung tragen müssen, wenn sie in den Einrichtungen sind. Aber wir merken schon, dass es eine Tendenz in Richtung der Teilzeitausbildung gibt. Auch jüngere Menschen entscheiden sich dafür, weil sie einfach das Geld brauchen, und es leider keine anderen Finanzierungsmöglichkeiten gibt. Das ist keine gute Entwicklung, weil die Vollzeitausbildung schon sehr viel Sinn macht.

Was sagen Sie zum 2+2-Modell, nach dem auf die zweijährige Berufsfachschule mit Abschluss Sozialpädagogische Assistenz eine um ein Jahr verkürzte Erzieher*innenausbildung folgt?

Vielrose: Für die Zielgruppe, die einen Abschluss als staatlich geprüfte Sozialassistent*innen macht, ist der Übergang in die zweijährige Fachschule schwierig. Wir schaffen es gerade einmal, eine Klasse aufzumachen, statt zwei, die wir eigentlich mal anvisiert haben, weil die Prüfung nachher bestanden werden muss. Es gibt viele, die nach zwei Jahren in die Teilzeit gehen, weil sie sonst finanziell nicht über die Runden kommen.

Orsag: 2+2 ist ein verzweifelter Versuch der Bildungsverwaltung, mehr Absolvent*innen zu produzieren. Wir begrüßen grundsätzlich die Chance für junge talentierte Menschen, eine verkürzte Ausbildung machen zu können, aber das ist ein Bruchteil. Die Ausbildungsverordnung wurde für die Fachschulen geändert, die Eingangsvoraussetzung ist nun das Abitur und der Abschluss ist auf dem Bachelorniveau, DQR6 genannt. Wenn jemand innerhalb von vier Jahren den Sprung zu dieser Qualitätsstufe machen soll, dann ist das ein sehr gewaltiger Schritt. Unsere Kolleg*innen stehen diesem Modell sehr kritisch gegenüber, weil es viele frustrierte Studierende gibt, die ihr Bestes tun, aber einfach mehr Zeit brauchen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Es ist ein Modellversuch, der bis zum Schuljahr 2025/2026 verlängert und vielleicht später in den Regelbetrieb überführt wird. Aber die Hoffnung, die damit verbunden war, dass dadurch mehr Absolvent*innen auf den Markt strömen, wird sich nicht einstellen.

Vielrose: Wir generieren aus fünf Klassen maximal eine Klasse. Es ist ein sehr starres Konzept, man kann nicht von der dreijährigen in die zweijährige Ausbildung wechseln. Wenn es mehr Durchlässigkeit geben würde, wäre die Ausbildung vielleicht attraktiver.

Sowohl in den Kitas und auch in der ergänzenden Förderung und Betreuung an Schulen wurde das Fachkräftegebot auf Grund von fehlenden Fachkräften zunehmend ausgehöhlt. Was bedeutet das für die Fachpraxis und für den Berufsstand der Erzieher*innen?

Vielrose: Durch die Praxisbesuche und von unseren Studierenden wissen wir, dass es eine starke Belastung durch den hohen Betreuungsschlüssel gibt, durch die Krankenstände, durch die mangelnde Wertschätzung.

Orsag: Berlin ist eine Stadt, in der es zunehmend doch Kinder mit sogenannten special needs gibt. Das heißt, es ist nicht nur die Anzahl der Kinder pro Erzieherin, sondern es gibt sehr viele Kinder, die besonders betreuungsintensiv sind. Dafür sind die Einrichtungen nicht ausreichend ausgestattet. Es ist sehr herzzerreißend zu beobachten, wie motivierte, engagierte Erzieher*innen aufgrund dieser wahnsinnigen Belastung einfach krank umfallen.

Vielrose: Oder diesem Beruf den Rücken kehren. Ich habe Verständnis dafür, weil es die eigene Gesundheit angreift.

Orsag: Viele Einrichtungen sind in solch einer personellen Notlage, dass von qualitativer Arbeit keine Rede mehr sein kann. Sie kommen kaum zurecht, um die Kinder zu beaufsichtigen. Unsere Lehrkräfte berichten von ihren Praxisbesuchen, dass die Erzieher-*innen es nicht mal schaffen, sich für ein halbstündiges Gespräch mit ihnen zusammenzusetzen, um über den Praktikanten oder die Praktikantin zu reden.

Inwieweit bereiten Sie Ihre Schüler*innen auf die Zustände in der Praxis vor?

Orsag: Na ja, wir bereiten sie schon darauf vor. Aber dann gibt es trotzdem diesen unheilvollen Praxisschock. Wir unterrichten an den Fachschulen, wie die Arbeit eines*r Erzieher*in aussehen sollte, was die Kinder brauchen, welche Unterstützung, welche sprachliche Förderung. Und dann kommen die Studierenden in die Praxis und stellen zu 90 Prozent fest, dass sie all das nicht anwenden können. Der Personalmangel hat zur Folge, dass deutlich weniger Leute für die Kinder zuständig sind und dadurch steht die Grundversorgung im Fokus. Alles, was darüber hinausgeht, kommt immer zu kurz.

Vielrose: Wir gehen in der Ausbildung immer von den besten Möglichkeiten aus. Die ersten praktischen Erfahrungen machen die Schüler*innen im ersten Ausbildungsjahr. Viele kommen zurück und sagen »Um Gotteswillen, das ist mir eigentlich viel zu laut, das will ich doch nicht.«

Orsag: Ja, aber dass es auch anders geht, sehen wir ebenso. Wir bieten Auslandspraktika in anderen europäischen Ländern an. Nachdem unsere Schüler-*innen in Dänemark oder Schweden ein Praktikum machen, kommen sie mit leuchtenden Augen zurück, weil sie sehen, wie schön das sein kann, wenn die Bedingungen stimmen. Das ist es, wofür ihr Herz brennt und wofür wir sie hier ausbilden.

Vielrose: Einige Studierende sind während des halbjährigen Praktikums in die Welt gereist, und als sie zurückkamen, haben sie ihre Projekte vorgestellt. Da liegen einfach Welten zwischen den Arbeitsbedingungen. Es müssen nicht Norwegen und die anderen skandinavischen Länder sein, auch Portugal oder Spanien bieten ganz andere Modelle an.

Orsag: Ich glaube, es gibt kaum ein Land in Europa, in dem der Stellenwert einer/s Erzieher*in so niedrig ist. In anderen europäischen Ländern haben Erzieher*innen einen gleichwertigen Status wie Lehrkräfte und werden auch so bezahlt und behandelt. Und hier in Deutschland ist es leider so, dass man die Erzieher*innen immer noch als Kaffee trinkende Tanten wahrnimmt, die auf dem Spielplatz ein bisschen auf die Kinder aufpassen. Das ärgert mich immer maßlos, weil es so tief verankert ist in den Köpfen. Deswegen gibt es auch keine Lobby für Erzieher*innen. Das ist sehr schade.

Welche Weiterqualifizierungsmöglichkeiten sehen Sie für staatlich anerkannte Erzieher*innen, um den Beruf qualitativ und finanziell attraktiver zu gestalten? Wie müssen sich die Rahmenbedingungen generell ändern?

Orsag: Eine bessere Bezahlung ist das A und O. Ich sehe Aufstiegsmöglichkeiten in dem Sinne, dass man sich auch innerhalb des Berufes weiter professionalisieren kann. Wenn es in multi-professionellen Teams in die Richtung gehen könnte, dass man sich für einen Bereich spezialisiert und die Kolleg*innen haben jeweils einen anderen Schwerpunkt, da könnte man in einer Einrichtung Expert*innen für alle Bereiche haben. Aber dafür müssen die Ressourcen stimmen.

Vielrose: Leider hat der Personalmangel hierauf auch einen Einfluss. Wenn ich jemanden zur Weiterbildung schicken möchte, zum Beispiel, um die Inklusion voranzutreiben, dann muss ich denjenigen oder diejenige für eine bestimmte Zeit freistellen. Das geht vielleicht aber nicht, weil der Personalschlüssel es gerade nicht hergibt. Erzieher*in ist ein Beruf mit sozialen Werten, in dem man nicht sagen kann »Ist mir doch egal, der Computer läuft auch ohne mich.«

Orsag: Eine wichtige Schraube ist die finanzielle Unterstützung der Studierenden während der Ausbildung. Beim heutigen Aufstiegs-BAföG müssen knallharte Bedingungen erfüllt werden, was völlig absurd ist. Die Praktikumszeiten werden vom BAföG-Amt nicht als Unterrichtszeit anerkannt. Das heißt, wenn man BAföG-berechtigt sein will, muss man jede Woche mindestens drei Tage in der Schule sein. Während des gesamten fünften Semesters findet aber ein Praktikum statt. Dann fällt die Finanzierung durch das BAföG weg und die Studierenden müssen diese Zeit überbrücken, bis sie im sechsten Semester wieder Geld bekommen. Das ist ein massiver Missstand.

Vielrose: Unsere Absolvent*innen kommen mit einem Abschluss DQR 6 aus dem Fachschulstudium. Wenn sie sich dann für ein Studium entscheiden, wäre es interessant, wenn sie einzelne Komponenten oder Module anerkannt bekämen. Aber selbst die Alice-Salomon-Schule als Fachhochschule erkennt nicht alles an.

Orsag: Auf dem Papier haben die Erzieher*innen den DQR 6, also den Bachelor, aber dennoch ist das keine Aufnahmevoraussetzung für die Universitäten und sie können nicht den Master machen, weil die Ausbildung in den Unis nur als Abitur gilt. Das spricht auch Bände über die Wertschätzung. Berlin bildet auch keine Lehrkräfte für das Fach Sozialpädagogik aus, das ist in anderen Bundesländern anders. Da würden wir uns mehr Flexibilität wünschen.

Insbesondere erfahrene Erzieher*innen würden gerne in der Erzieher*innen-Ausbildung tätig werden, scheitern jedoch am Lehrkräftebildungsgesetz. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Orsag: Bei uns ist es nicht so wie in den anderen Oberstufenzentren (OSZ). Die Lehrkräfte für berufliche Praxis kommen dort direkt aus den Handwerksberufen. Sie sind aber auch deutlich schlechter bezahlt als andere Lehrkräfte. Jetzt gibt es Überlegungen, dass man das auch für die sozialpädagogischen Schulen schafft. Aber dann gäbe es innerhalb des Kollegiums eine Zwei- oder Drei-Klassen-Gesellschaft.

Vielrose: Die aber dann alle das Gleiche leisten …

Orsag: Grundsätzlich muss eine Durchlässigkeit möglich sein, in allen Berufsstufen, sodass man sich umorientieren kann. Das ist hier noch sehr bürokratisch. Das A und O ist eine bessere Bezahlung der Erzieher*innen und eine Wertschätzung, nicht in Form von Lob und schönen Worten, sondern mit Geld.

Vielrose: Ich finde aber trotz allem, auch wenn die Wertschätzung nicht da ist, dass es unterm Strich eigentlich ein schöner Beruf ist. Und alle, die sich dafür entscheiden, machen das mit Herzblut.    

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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