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Schwerpunkt "Schule neu denken"

Neue Freiräume durch Präsenz

Arbeitsplätze, an denen Lehrkräfte gerne Zeit verbringen, ermöglichen auch zeitgemäße Lernprozesse. An der Alemannenschule führt eine andere Organisation der Arbeitszeit zu Entlastung.

Foto: Bertolt Prächt

Erfolgreiche Schulentwicklungsprozesse benötigen Zeit und Raum für Absprachen und Zusammenarbeit. Beides ist an vielen Schulen Mangelware, da Lehrkräfte aufgrund ihrer hohen Unterrichtsverpflichtung in erster Linie vor der Klasse stehen. Zeiten für gemeinsame Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts sind selten institutionell verankert und müssen um den Unterricht herumorganisiert werden. Zur Unterrichtszeit hinzu kommen Konferenzen, gemeinsame Unterrichtsvorbereitungen, Abstimmungsprozesse oder Fortbildungen und bedeuten, so nötig sie auch sein mögen, zusätzliche Belastungen. Obwohl die Aufgaben von Lehrkräften seit Jahren komplexer werden und insbesondere Fortbildungs- und Schulentwicklungsprozesse immer mehr Raum einnehmen, finden sich diese Tätigkeiten in nahezu allen Bundesländern nicht im Stundendeputat wieder. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass die Berechnung der Arbeitszeit von Lehrkräften auf der Basis des Stundenhaltens erfolgreiche Schulentwicklung behindert.

 

Lehren im 45-Minuten-Takt

 

In den meisten Bundesländern ist die Lehrkräftearbeitszeit nach dem sogenannten Deputatsmodell, auch Pflichtstundenmodell genannt, organisiert. Lehrkräften ist je nach Bundesland und Schulart eine bestimmte Anzahl an Unterrichtsstunden pro Woche vorgegeben. Darüber hinaus sind weitere Zeiten in der Schule zu verbringen, etwa für verpflichtende Konferenzen oder nach zusätzlichen innerschulischen Absprachen, zum Beispiel für Arbeitsgruppen. Die Berechnungsgrundlage der 45-Minuten-Unterrichtsstunde wurde im Jahr 1911 vom preußischen Kultusminister August von Trott zu Solz eingeführt und unterliegt bis heute der Kritik, da sich der individuelle und objektive Aufwand für eine Unterrichtsstunde je nach Fach, Vor- und Nachbereitungsaufwand, Jahrgangsstufe und Klassenstärke stark unterscheidet

 

Präsenzarbeitszeit als Alternative

 

Einen gänzlich anderen Weg geht die Alemannenschule im badischen Wutöschingen. Bemessen wird die wöchentliche Arbeitszeit dort mit 35 Zeitstunden bei einer Vollzeitstelle, die als Präsenzzeit in der Schule verbracht werden müssen. Lehrkräfte, die Lernbegleiter*innen heißen, sind in ihrer Präsenz-Arbeitszeit hauptsächlich Ansprechpartner*innen für Schüler*innen, genannt Lernpartner*innen. Ihr Arbeitsplatz ist das Lernatelier oder ein kooperativer Lernbereich in den unterschiedlichen Häusern, die von jeweils zwei Hausleitungen verwaltet werden. Neben diesen Beratungstätigkeiten gibt es wenige festgelegte Termine für Inputstunden oder Fachunterricht. Bei einer Vollzeitstelle müssen zwölf dieser Unterrichtsstunden pro Woche gehalten werden. Um die Arbeitszeit vor Ort effektiv für verschiedenste Aufgaben zu nutzen, steht jeder Lehrkraft ein Arbeitsplatz mit Tablet, Drucker, einem Regal und verschiedenen Büromaterialien zur Verfügung. Diese räumlichen und technischen Voraussetzungen ermöglichen es, dass ein Großteil der anfallenden Tätigkeiten in der Schule erledigt werden kann.

Im Gespräch erläutert Schulleiter Stefan Ruppaner, dass dies auch überwiegend gelinge. Ausgangspunkt für die Umstellung der Alemannenschule war eine veränderte Herangehensweise an Unterricht, getragen von einer veränderten Vorstellung von Lernen. Für Ruppaner ist die Umstellung der Arbeitszeit in erster Linie eine Konsequenz aus der veränderten Pädagogik: »In der Entwicklung vom belehrenden Unterricht hin zur Lernbegleitung ließ sich die Arbeit einer Lehrkraft gar nicht mehr in Deputatsstunden fassen.« Die Entscheidung für die 35-Stunden-Woche war dann eher ein »Zufallsprodukt« – inspiriert vom, im Jahr 2004 erschienenen, Film »Treibhäuser der Zukunft«.

Um Lernen in der Schule in Form eigener und flexibler Lernwege zu ermöglichen, mussten strukturelle Voraussetzungen für Schüler*innen und Lehrkräfte verändert werden. Für Schüler*innen änderte sich die Art und Weise der aktiven Auseinandersetzung mit Inhalten. Mit individuellen Lernplänen, Kompetenzrastern und Stempelkarten sind die Lernprozesse stark personalisiert. Sie lernen und arbeiten in Lernateliers und in der Auseinandersetzung mit vorbereiteten Lernmaterialien.

Für Lehrkräfte änderte sich die Organisationsstruktur ihrer Arbeitszeit. Sie sind verpflichtet, ihre Arbeitszeit in der Schule abzuleisten, erhalten dafür aber einen Arbeitsplatz und ein Setting, welches alle pädagogischen Aufgaben einer Lehrkraft berücksichtigt. Lehrkräfte verbringen so insgesamt mehr Zeit an der Schule, weshalb Absprachen besser in den Alltag integriert werden können. Dadurch, dass der größte Teil der Vor- und Nachbereitungsarbeit in die Schule verlagert wird, können Lernmaterialien besser im Team vorbereitet werden. Die Kooperation in multiprofessionellen Teams ist damit im Alltag angelegt, ebenso wie projektartiges Arbeiten an schulentwicklungsbezogenen Themen besser in den Arbeitstag integriert werden kann. Und auch hinsichtlich des Unterrichts konnte die Alemannenschule konsequent an der Konzeption des freieren Lernens in Lernateliers festhalten.

 

Den Aufbruch wagen

 

Die Alemannenschule hat die Gestaltung von Lernprozessen grundlegend verändert und unter neuen Bedingungen eine andere Arbeitszeitstrukturierung entwickelt. Doch wie sieht es mit Schulen aus, denen eine vergleichbare Vision des Lernens abgeht? Könnte sich die Art des Unterrichtens sowie die Art der gemeinsamen Gestaltung von Schule dadurch ändern, dass vom Deputatsmodell auf Präsenzzeit umgestellt wird? Wird die Arbeitszeit nicht in 45-Minuten­-Einheiten bemessen, könnte Unterricht auch andernorts eher »aufgebrochen« und fächer- sowie altersübergreifend organisiert werden. Ebenso dürften Team-Teaching sowie Formen der kollegialen Hospitation mit gegenseitigem Feedback an Attraktivität gewinnen oder zumindest organisatorisch leichter zu bewerkstelligen sein.

Gleichwohl können Schulentwicklungsprozesse nur dann nachhaltig gelingen, wenn der Wunsch nach Veränderung auch aus den eigenen Reihen kommt. Trotz der eindrucksvollen Arbeitsweise an der Alemannenschule ist davon auszugehen, dass sich dieses Modell nicht zur flächendeckenden Einführung eignet. Ein vergleichbares Leitbild mitsamt den erforderlichen Haltungen kann nicht von oben verordnet werden. Zudem wären wohl auch Widerstände zu erwarten. Die Einführung der 35-Stunden-Präsenz-Woche greift doch massiv in den bisherigen Berufsalltag ein. Pädagog*innen büßen auf den ersten Blick räumliche, zeitliche und auch didaktische Freiheiten ein. Wer nicht gelernt hat, im Team zu arbeiten, oder nicht bereit ist, die eigene Rolle zu überdenken, für den mag eine solche Entwicklung ein Rückschritt in Form eines unflexiblen Zeitkorsetts sein.

Gleichwohl ergeben sich aus dem Konzept der Alemannenschule viele Anregungen, das System Schule, die Lernaktivitäten von Schüler*innen und die eigene Rolle als Lehrkräfte neu zu interpretieren. Wenn Schulleitungen und Kollegien also aus eigenem Interesse heraus einen inhaltlichen und strukturellen »Aufbruch« wagen möchten, sollte es ihnen politisch zumindest ermöglicht werden.

 

Auf dem Dach der Athene-Grundschule nutzen Schüler*innen den 2018 eingerichteten Verkehrsgarten, um alle gängigen Situationen im Straßenverkehr zu üben.

Eine ungekürzte Fassung des Artikels findet sich hier: https://joschafalck.de/erfolgsmodell-35-stunden-woche/

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46