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Kinder- und Jugendhilfe

Beziehung in Zeiten der Distanz

Von der Schließung der Schulen und vieler Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sind Kinder mit psychosozialen Beeinträchtigungen besonders betroffen.

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Foto: Imago Images/Hans Lucas

Die massiven Beeinträchtigungen des öffentlichen Lebens im Rahmen des so genannten Lockdowns betreffen alle Schüler*innen. Gleichzeitig ergeben sich spezifische Herausforderungen des Distanzlernens für psychosozial beeinträchtige Kinder und Jugendliche. Die damit genannte Zielgruppe stellt keine homogene Klientel dar. Sie ist auch nicht komplett identisch mit der Gruppe von Schüler-*innen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt »emotionale und soziale Entwicklung«. Je nach institutionellem Kontext werden sie verhaltensauffällig, Systemsprenger*innen oder »Augenmerkkinder« genannt.

Trotz ausgeprägter Heterogenität liegen einige wichtige Gemeinsamkeiten zur Beschreibung der Gruppe vor: Zentrale Beziehungserfahrungen, insbesondere mit Eltern oder Elternersatzpersonen waren oder sind häufig durch Gewalt und Vernachlässigung geprägt. Viele dieser Kinder leben gleichsam häufig unter sozialen Risikobedingungen, erleben Armut, Marginalisierung und Rassismus; die Familien leiden nicht selten unter schlechten Wohnverhältnissen. 

Ein Lockdown pädagogischer Beziehungen

Längere Zeiten ohne schulischen Alltag in ohnehin komplex belasteten Familiensystemen sind nicht zwangsläufig, aber doch häufig mit neuen und erheblichen Belastungen für die Kinder und Jugendlichen verbunden. Es lässt sich also festhalten, dass diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen von den aktuellen Schulschließungen in besonderer Weise betroffen ist. 

Medial wird vor allem die Benachteiligung dieser Schüler*innen im Lernprozess thematisiert. Mindestens genauso bedeutsam aber erscheint es, den unterbrochenen pädagogischen Beziehungsprozess und die ebenso unterbrochene stabilisierende Erfahrung eines täglichen Schulbesuchs für diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen in den Blick zu nehmen. 

Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass jegliche Unterbrechung von pädagogischer Beziehungsarbeit und haltender institutioneller Erfahrung bei diesen Schüler*innen ein erhebliches Maß an Angst und ein Gefühl des Verlassenseins auslöst. 

Durch Schulschließungen und Lockdowns im Kinder- und Jugendhilfesystem sind komplexe Folgen für die aktuelle psychische Situation sowie die zukünftige psychosoziale Dynamik zwischen Fachkräften und den hier benannten Schüler*innen absehbar. Die weitgehend spontanen und deshalb nur unzureichend kommunizierten Schulschließungen sind nicht mit einer geplanten und transparenten Unterbrechung einer pädagogischen Beziehung etwa während der Schulferien vergleichbar. Die aktuelle Situation ist vielmehr durch eine außerordentliche Unberechenbarkeit geprägt.

Es braucht Verlässlichkeit in der Krise

Aus einer fachdisziplinären Sicht muss die emotionale Unterstützung einerseits und andererseits die Förderung des Lernens stets gemeinsam gedacht werden. In einer hoch belasteten emotionalen und sozialen Lebenssituation ist die Fähigkeit zur Konzentration und Verinnerlichung von schulischen Lerninhalten deutlich eingeschränkt. 

Findet eine alleinige Fokussierung auf das digitale Lernen statt, sind neuerliche Scheiternserfahrungen für diese Gruppe von Schüler*innen vorprogrammiert. Deshalb muss es für diese Schüler*innen während der Schulschließungen ein Angebot geben, dass auf verbindlichen Kontakt und emotionale Stärkung ausgerichtet ist. 

Viele Schulen sowie assoziierte Träger der Jugendhilfe und einzelne Fachkräfte haben auf diesen Bedarf mit engagierten und innovativen Angeboten reagiert. Leider gilt dies aber gerade für die Kinder und Jugendlichen mit den höchsten Bedarfen nicht flächendeckend! Die aktuelle Situation, in der die geleistete oder nicht geleistete Beziehungsarbeit stark vom Engagement einzelner Schulen oder sogar Fachkräfte abhängig ist, stellt insbesondere für hoch belastete Schüler*innen eine nachhaltige Risikokonstellation dar. 

In Anbetracht erster Anzeichen einer Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 ist auch ein Ausblick auf den Wiedereinstieg der pädagogischen Arbeit am Lern- und Entwicklungsort Schule angezeigt. Fachkräfte, die mit psychosozial beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen arbeiten, werden es dann vielfach mit umfassenden Konzentrations-, Verhaltens- und emotionalen Störungen zu tun haben. Hinter diesem Verhalten der Kinder und Jugendlichen steht einerseits die belastende Erfahrung der Schulschließung. Andererseits bringen die Kinder durch ihr Verhalten den Wunsch zum Ausdruck, in der Institution Schule wieder Halt zu finden. Es ist deshalb von höchster Bedeutung, dass sich Kollegien auf diese Situation vorbereiten. 

Stabilisierende Beziehungsangebote, individuelle Lernszenarien und flexible Leistungsbewertungen sind notwendig, um hoch belasteten Schüler*innen einen Weg zurück in die Schule zu ebnen. Der Versuch, verlorengegangene Zeit durch möglichst straff organisierten Unterricht wett zu machen, ist mindestens in der Arbeit mit dieser Gruppe zum Scheitern verurteilt.

Um diese Herausforderung bestehen zu können, benötigen auch die Lehrkräfte Unterstützung in der Weiterentwicklung ihrer reflexiven Professionalität. Von besonderer Bedeutung ist deshalb sowohl während der Schulschließungen wie auch im Anschluss die Expertise und das Engagement von bereits an der Schule tätigen Fachkräften, die aus PKB-Mitteln bezahlt werden. Unter diesen finden sich zahlreiche engagierte angehende Sonderpädagog*innen, die ein spezifisches Know-How für die oben beschriebenen pädagogischen Herausforderungen mitbringen. Den PKB-Kräften sollte die Möglichkeit gegeben werden, auf entsprechende Online-Methoden umzusteigen, um dadurch eine fortlaufende Beschäftigung an den Schulen zu ermöglichen und die Begleitung hoch belasteter Kinder und Jugendlicher fortzusetzen.    
 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46