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Schwerpunkt "Verloren im Verwaltungswirrwarr"

Eine Stadt – getrennte Welten

Sozialräumliche Ungleichheiten für Kinder in Berlin.

Miniatrue people: Shoppers with shopping cart standing on maze. Tourism, shopping or business concept.
Foto: Adobe Stock

Eine bundesweite Studie zeigt, dass in Gebieten, in denen die Kinderarmut hoch ist, weniger Spielplätze und Parks zur Verfügung stehen. Auch die Lärm- und Umweltbelastung ist höher.

Alle Kinder und Jugendlichen haben gemäß Artikel 26 und 27 der UN-Kinderrechtskonvention das Recht auf ein gutes Aufwachsen, bestmögliche Entwicklungschancen und soziale Sicherheit. Die derzeitige Situation in Deutschland sieht jedoch anders aus: Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf. Sie erleben aufgrund der Einkommensarmut ihrer Familie nicht nur Mangel in ihrer materiellen Grundversorgung und alltäglichen Verzicht, sie können auch nicht in gleichem Maße am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Dabei hängen die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe von Kindern immer stärker von den Orten ab, an denen sie aufwachsen. Diesen Missstand kritisiert auch der UN-Kinderrechtsausschuss, der im aktuell laufenden Staatenberichtsverfahren die Bundesregierung erneut auf die zunehmende regionale Ungleichheit in Deutschland hinweist. Für eine gelingende Armutsprävention gilt es daher, den Blick verstärkt auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bedingungen am Lebensort von Kindern zu richten.

Vor diesem Hintergrund haben die Heinrich-Böll-Stiftung und das Deutsche Kinderhilfswerk im Frühjahr 2021 eine Studie veröffentlicht, die untersucht, inwiefern mit der Ballung vieler ärmerer Kinder in einem Stadtteil eine infrastrukturelle Benachteiligung im Lebens- und Wohnumfeld einhergeht.

Neben dem familiären und weiteren sozialen Umfeld prägen insbesondere die infrastrukturellen Einrichtungen, die Kinder in ihrer Umgebung vorfinden, die Bedingungen, unter denen sie aufwachsen. Dazu gehören neben den Bildungseinrichtungen und dem Gesundheitssystem auch öffentliche und private Sport- und Kulturangebote sowie vorhandene Spiel- und Freizeitflächen. Die Untersuchung nimmt diese für die soziale Teilhabe von Kindern zentralen Infrastrukturen – die auf sozialräumlicher Ebene mit Daten unterlegt und vergleichbar gemacht werden konnten – sowie Umweltbedingungen in den einzelnen Stadtteilen exemplarisch für sieben Großstädte, darunter Berlin, in den Blick.

Kinder in ärmeren Stadtteilen infrastrukturell benachteiligt

Im Städtevergleich weist Berlin eine hohe soziale Segregation auf: So leben in einigen Stadtteilen bis zu 77 Prozent der Kinder unter 15 Jahren im SGB II-Bezug. Hierzu gehören etwa das Gebiet um den Berliner Wedding, Teile von Kreuzberg (rund um den Moritzplatz) und Neukölln, aber auch Gebiete in den äußeren Stadtteilen Spandau und in den Plattenbaugebieten von Marzahn-Hellersdorf.

Mit Blick auf die Bebauung und Umweltbelastung sind Kinder in diesen sozial benachteiligten Stadtgebieten schlechter gestellt. Gemessen an der Gesamtfläche der Stadtteile weisen sozial benachteiligte Stadtgebiete in Berlin einen größeren Anteil von Industrie- und Gewerbeflächen (11,1 bis 12,1 Prozent) auf als sozial bessergestellte Quartiere (5,3 bis 8,1 Prozent). Zudem zeigt sich, dass Gebiete mit einer höheren Armutsquote signifikant häufiger Lärmbelastungen ausgesetzt sind (34,2 Prozent der Wohngebäude) als sozial privilegierte Stadtviertel (23,3 Prozent).

Ähnliches lässt sich für Sport-, Freizeit- und (Nah-)Erholungsflächen wie Spielplätze und Parks beobachten. In den sozial besonders privilegierten Stadtvierteln Berlins stehen pro Kind 1.459 bis 2.067 m² mehr Sport-, Freizeit- und Erholungsflächen zur Verfügung als in den Stadtteilen der anderen sozialen Lagen. Zudem haben Kinder, die in einem privilegierten Stadtteil leben, im Schnitt 8.000 bis 9.600 m² pro Kind mehr Freiraumflächen zur Verfügung. In Bezug auf Spielplatzflächen zeigt sich ebenfalls eine Tendenz zugunsten der sozial bessergestellten Stadtteile, jedoch ist der Zusammenhang statistisch gesehen nur gering.

Kaum Musikschulen im Wedding und in Reinickendorf

Anders sieht es bei der Verfügbarkeit von kulturellen Angeboten und Schulen aus. Bei den untersuchten kulturellen Einrichtungen zeigt die Analyse in Berlin keinen klaren Zusammenhang zwischen der sozialen Lage der Stadtteile und der Verteilung der untersuchten Institutionen. Auch in Bezug auf die Verfügbarkeit von gymnasialen Oberstufen und Gesamtschulen zeigt sich in Berlin keine regionale Benachteiligung der Stadtteile mit höherer Kinderarmutsquote. Auffällig ist jedoch, dass sich im Wedding beziehungsweise dem südöstlichen Reinickendorf, jenen Gebieten mit einer ausgeprägten sozialen Benachteiligung von Kindern, nur ein einziges Musikschulangebot befindet.

Das Bild bei der medizinischen Versorgung ist dagegen geteilt: Bei der Versorgung mit Kinderärzt*innen weisen die sozial benachteiligten Stadtteile Berlins keine schlechtere Versorgungslage auf. Auffällig sind jedoch eine Reihe von regionalen Clustern bei den kinder- und jugendtherapeutischen Praxen; so gibt es eine sehr starke Häufung von Kinder- und Jugendtherapeut*innen rund um den Prenzlauer Berg, zwischen Barbarossaplatz (Schöneberg) und Botanischem Garten (Zehlendorf), in Charlottenburg und an der Grenze von Kreuzberg und Neukölln.

Die Studie verdeutlicht, dass Kinder in den armen Stadtteilen Berlins mit Blick auf die Umweltbelastungen sowie die Sport-, Freizeit- und (Nah-)Erholungsflächen nicht die gleichen Voraussetzungen vorfinden wie Gleichaltrige in privilegierteren Stadtteilen. Auch wenn in Bezug auf die kulturellen Angebote, Schulen sowie die medizinische Versorgung annähernd gleichwertige Verfügbarkeiten verzeichnet werden, muss doch festgestellt werden, dass den nachweislich höheren Bedarfen von Kindern, die in Armut leben – nach dem Motto »Ungleiches ungleich behandeln« – damit nicht Rechnung getragen wird.

Nicht untersucht werden konnte im Rahmen der Studie, inwiefern sich die Qualität der Infrastrukturen in den Stadtteilen unterscheiden. Auch hier ist, auf Grundlage vereinzelter anderer Studien, stark davon auszugehen, dass Benachteiligungen vorzufinden sind. Es besteht jedoch weiterer Forschungsbedarf. Nicht zuletzt kommt es auch auf die Zugänge für Kinder und ihre Familien an. Dies betrifft insbesondere das Wissen über passende Angebote und finanzielle Unterstützung beziehungsweise Erstattungen. Bürokratische und stigmatisierende Antragsprozesse, wie beim Bildungs- und Teilhabepaket, stellen nachgewiesenermaßen große Hürden für die Inanspruchnahme dar.

Wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird, hängt maßgeblich davon ab, welche Teilhabechancen wir Kindern mitgeben. Jedes einzelne Kind soll gesund aufwachsen, spielen und sich gefahrlos im Wohnumfeld bewegen können. Die Verringerung sozialer Segregation und Bekämpfung der Ursachen von Kinderarmut ist hierfür zentral. Sie kann nur gelingen, wenn Armutsprävention übergreifend in politisches Handeln Eingang findet. Hierfür braucht es eine Gesamtstrategie, die eine grundlegende Reform des Systems der Familienförderung und die Gewährleistung sozialer Teilhabe von Kindern in ihrem direkten Lebensumfeld, unabhängig von ihrem Wohnort, endlich konsequent angeht.

Helbig, Marcel und Katja Salomo: Eine Stadt – getrennte Welten? Sozialräumliche Ungleichheiten für Kinder in sieben deutschen Großstädten. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und dem Deutschen Kinderhilfswerk (DKHW). Abrufbar unter: www. boell.de/de/eine-stadtgetrennte-welten

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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