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Tendenzen

»Lehrer*innen müssen erzählen können«

Hans-Wolfgang Nickel gilt als Wegbereiter der Theaterpädagogik. Seit Jahrzehnten schreibt er für die bbz. Nun will er den Staffelstab übergeben.

Foto: PRIVAT

Seit über 55 Jahren schreibst du Theaterkritiken für die bbz. Mit wenigen Ausnahmen hast du in fast jeder Ausgabe veröffentlicht. Diese Kontinuität ist heutzutage kaum noch vorstellbar. Was hat dich motiviert, so lange dabei zu bleiben? 
Nickel: Mir war es immer sehr wichtig, die Lehrkräfte darauf aufmerksam zu machen, was für eine wichtige Rolle Theater im Unterricht spielen kann und sie dazu zu animieren, mit ihren Schüler*innen ins Theater zu gehen. In meinen kurzen Kritiken habe ich versucht, Anregungen zu geben, was man aus den einzelnen Stücken herausziehen und wie man das als Lehrkraft hinterher thematisieren kann. 

Du hast früher, Anfang der 60er Jahre, selbst auch als Lehrer gearbeitet. Bist du mit deinen Schüler*innen damals auch schon ins Theater gegangen?
Nickel: Genau. Ich habe einige Jahre als Lehrer an einer Grundschule und als Musiklehrer am technischen Zweig einer Real-schule gearbeitet. Besonders am technischen Zweig war es so wahnsinnig schwer, die Jungs für Musik zu begeistern! Die Mädchen sangen gerne, aber die Jungs haben mich ans Ende meines pädagogischen Könnens gebracht. Und dann ist mir die Idee gekommen, die mal mit ins Theater zu nehmen. Es war beeindruckend, wie viel positiver die das aufgenommen haben. Bei unseren Ausflügen ist immer etwas ganz Besonderes passiert. 

Von der Schule bist du dann 1964 an die Pädagogische Hochschule Berlin gegangen, zunächst als Dozent, später dann als Professor für Theaterpädagogik. Dabei gab es das Fach damals noch gar nicht. Wie kam es dazu?
Nickel: Überall wo ich war, habe ich immer kleine Theatergruppen aufgebaut. Das habe ich auch schon als Schüler so gemacht, und erst recht im Studium. Als Lehrer habe ich dann Ende der 50er Jahre die Berliner Lehrerbühne gegründet. Unser Ensemble bestand aus Lehrkräften und wir haben Stücke mit pädagogischen Themen inszeniert und gespielt. Jedes Jahr haben wir auch ein, zwei Gastspiele an der Pädagogischen Hochschule (PH) gemacht und daraufhin haben sie mich an die PH geholt. Die wollten, dass zu den musischen Übungen – Musik und bildende Kunst – auch Spiel und Theater hinzukommt. Damals tauchte Theater noch gar nicht in den Schulen auf, das war ganz neu. Wir haben an der PH dann ein neues Fach »Schulspiel« eingerichtet. Das konnten die Lehramtsstudierenden als Wahlfach wählen. Mit der Integration der PH in die Hochschule der Künste Berlin (HdK) im Jahr 1980 und später in die Universität der Künste bin ich dann mit meinem Fach gewechselt. Das Fach Schulspiel wurde zum Studienfach »Spiel- und Theaterpädagogik«. 

Was wolltest du deinen Studierenden im Fach »Schulspiel« vermitteln? 
Nickel: Ich hatte mir das gar nicht unbedingt als eigenes Schulfach vorgestellt, sondern als Methode im Unterricht und als Theater-AG. Uns ging es viel um die Auftrittskompetenz. Lehrer*innen müssen sich vermitteln können. Es war immer unser Ziel, dass die lernen, über das Spiel Kontakt zu ihren Schüler*innen aufzunehmen. Aber es ging auch um das Theaterverständnis; darum, was die Schüler*innen aus einem Theaterbesuch an Themen für sich mitnehmen können. Wir haben an der PH mit den musischen Fächern eine Begrüßungswoche gemacht und haben die neuen Studierenden ins Studium eingeführt. Da blieb dann manch eine*r bei uns hängen. Da es ein Wahlfach war, waren alle meine Studierenden immer freiwillig da. Das war wichtig. Ich selbst habe während meines Studiums eine ungeheure Freiheit genossen, die habe ich auch versucht an meine Schüler*innen weiterzugeben. »Ihr seid die Chefs eures Lebens! Ihr müsst sehen, was euch fehlt und euch das holen. Schaut rum, was euch interessiert und zischt los!« Offen machen für die Welt, statt zu diktieren! 

Gibt es diese Freiheit auch im Fach der Theaterpädagogik nicht mehr? Du bist seit 1998 in Rente. Beobachtest du heute überhaupt noch, was deine Nachfolger*innen an der UdK so machen? 
Nickel: Ich will als alter Mann keine klugen Ratschläge geben. Auch heute passieren da tolle Dinge. Lass mich ein Beispiel nennen: Wir hatten immer das Erzählen im Repertoire. Lehrer*innen müssen erzählen können. Das hat meine Kollegin Kristin Wardetzki zum Schwerpunkt gemacht und ausgebaut, in Richtung künstlerisches Erzählen. Sie hat inzwischen eine ganze Crew junger Leute um sich herum und die gehen viel in die Willkommensklassen hinein und erzählen Geschichten. Und sie lassen erzählen. Da hat sich viel getan. 

Wie hat sich denn das Kinder- und Jugendtheater verändert über all die Jahre, die du nun schon so intensiv verfolgst? Wie erinnerst du die Anfangszeit? 
Nickel: Ich erinnere mich an Horst Jüssen und das Reichskabarett. Eigentlich war das für Erwachsene, aber die machten auch so Parodien für Kinder. Ende der 60er Jahre hatten die ein Stück »In Wilmersdorf ist Wilder Westen«. Eine Szene, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ging so: Ein Westernheld geht in den Saloon und bestellt ein Glas Milch. Kein Whiskey, sondern Milch. Das war der Witz! Wenn überhaupt war das witzig für Erwachsene. Aber die Kinder hatten doch keine Ahnung vom Wilden Westen, von Cowboy-Machos und auch nicht von einem Saloon. Und dann bekommen die so etwas vorgesetzt. Da bin ich ausgeflippt. Aber danach kam Volker Ludwig. Sein erstes Stück hieß »Stokkerlok und Millipilli«. Es handelt von einem Mädchen auf einer Eisenbahn – das war emanzipatorisch und ein Volltreffer für die jungen Leute und ein absolutes Gegengewicht zu »In Willmersdorf ist Wilder Westen«. Volker Ludwig hat bis heute eine ganze Reihe solcher wunderbaren Kinder- und Jugendstücke geschrieben und mit seinen Crews gespielt. Und mit dem Grips Theater kamen dann eine ganze Menge anderer Theater nach: Atze, Frau Zajons in Alt-Moabit, die Tribüne, das Theater an der Parkaue. Die Szene blühte auf und stimulierte sich gegenseitig. Aber das Grips war eigentlich immer vornean. 

Du hast mir mal erzählt, dass du bei deinen Theaterbesuchen längst nicht immer nur auf die Bühne, sondern genauso gerne in den Zuschauer*innenraum schaust. Haben sich die Reaktionen der Kinder über die Jahre verändert?
Nickel: Da wüsste ich keine Unterschiede zu nennen! Die Kinder schauen heute genauso gebannt zu wie früher. Auch die Kinder-Stücke selbst haben sich in all den Jahren gar nicht so sehr verändert. Früher bin ich ja mit meinen eigenen Kindern hingegangen, inzwischen sind es meine Großnichten oder Großneffen, die wir mitnehmen, um immer Expert*innen dabei zu haben. Von daher fühle ich mich fürs Kindertheater auch immer noch kompetent genug. Fürs Erwachsenentheater natürlich sowieso. Aber anders sieht es beim Jugendtheater aus, da habe ich zunehmend Schwierigkeiten zu folgen.

Der Anlass unseres Interviews war ja, dass du plötzlich auf mich zukamst, um mir mitzuteilen, dass du künftig keine Theaterkritiken mehr für die bbz schreiben kannst. Das konnte ich nach all den Jahren natürlich so einfach nicht akzeptieren. 
Nickel: Ich hatte dieses eine Schlüsselerlebnis mit meiner Frau. Wir waren im Grips, beim »Poetry Slam«. Da gehen die auf die Bühne wie so aufgedrehte Sprechmaschinen, sausen einen Text runter und sind wieder weg. Die bringen das akrobatisch rüber, Tempo, Tempo, Tempo, und versprechen sich nicht. Aber von ihrer Persönlichkeit habe ich gar nichts mitbekommen. Das habe ich meiner Frau erzählt und sie hat mir direkt widersprochen: »Natürlich erzählen die ganz viel von sich! Du verstehst es nur nicht!« Mir wurde klar: Ich weiß nicht mehr so genau, wie die jungen Leute ticken und was die brauchen und was man denen nahelegen soll. Ich habe immer versucht, das mit meinen Kritiken aufzuschließen für die Benutzer*innen. Was können die da rausziehen und was hat das mit ihnen zu tun. Aber bei solchen Formen kann ich das nicht mehr. 

Aber du hörst jetzt nicht von heute auf morgen auf, für uns zu schreiben? 
Nickel: Ich schreibe gerne noch weiter die ein oder andere Rezensionen für die Kleinen und die Großen. Aber für die Jugendlichen, da wünsche ich mir jemanden aus einer jüngeren Generation. Es ist mir wichtig, dass wir da jemanden finden, damit das Thema auch künftig seinen Platz in der bbz hat. Also: Freiwillige vor!

Lieber Wolfgang, wir danken dir für das Gespräch! Und für dein jahrzehntelanges Engagement!    

Hans-Wolfgang Nickel schreibt seit 1963 Theaterkritiken für die bbz, in fast jeder Ausgabe. Nickel hat lange an der Pädagogischen Hochschule, der Hochschule der Künste und später der Universität der Künste gelehrt und gilt als einer der Begründer der Theaterpädagogik. Er hat Generationen von Theaterpädagog*innen ausgebildet und vernetzt und zahlreiche Theatergruppen aufgebaut.
 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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