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bbz 09 / 2017

Verfolgte Lehrkräfte

Eine Studie der GEW BERLIN zeigt die Schicksale hunderter verfolgter Lehrkräfte in der Nazi-Diktatur. Doch der Forschungsbedarf bleibt groß

Foto: Stolpersteine für Erna, Erich und Flora Loewenthal - Damaschkestr. 32, Berlin, CC

Woche für Woche verschwanden mehr Lehrkräfte aus den Berliner Schulen. Mit neuen rechtsförmlichen Regelungen entfernten die Nazis sie aus dem Dienst. Mehr als 70 Jahre nach Ende der Nazibarbarei bringt eine von der GEW BERLIN beauftragte Studie ans Tageslicht, wer die Opfer waren.

Zum Beispiel Susanne Engelmann. 1912 machte sie ihr zweites Staatsexamen, danach war sie Lehrerin an der Sophie-Charlotte-Schule in Charlottenburg, ab 1932 Schulleiterin am Viktoria-Oberlyzeum in Mitte. Am 1. April 1933 wurde sie als »nichtarisch beurlaubt« und zum 1. Januar 1934 mit reduziertem Pensionsanspruch aus dem Schuldienst entlassen. Oder Fritz Ausländer, der seit 1914 Oberlehrer war, dann Soldat im ersten Weltkrieg und ab 1920 Studienrat am Köllnischen Gymnasium. Ausländer war SPD- und später KPD-Mitglied, aus der er 1932 wieder austrat. In der Nacht des Reichstagsbrandes am 28. Februar 1933 wurde er verhaftet und in mehrere Konzentrationslager verschleppt. Von der Schulverwaltung wurde er zunächst »beurlaubt« und zum 1. September 1933 wegen »Betätigung im kommunistischen Sinn« ohne Anspruch auf Ruhegeld aus dem Schuldienst entlassen. Erich Löwenthal wurde bereits im April 1933 wegen seiner jüdischen Religion »beurlaubt« und hatte ab August 1933 Berufsverbot. Im Jahr 1921 hatte er sein zweites Staatsexamen abgelegt, war unmittelbar danach Studienassessor und ab 1929 Studienrat an der Kirschner-Schule in Tiergarten (heute Berlin-Kolleg) gewesen. Lina Mayer-Kulenkampff, seit 1914 im preußischen Schuldienst, leitete ab April 1931 die Augusta-Schule in Berlin Tiergarten. Im Frühjahr 1933 wurde sie ebenfalls »beurlaubt«, ab Herbst 1933 in das Amt einer Studienrätin an die Elisabeth-Schule in Kreuzberg und zum 1. Januar 1935 »in den Ruhestand versetzt« – und zwar »im Interesse des Dienstes«, wie es offiziell hieß.

Engelmann, Ausländer, Löwenthal, Mayer-Kulenkampff. Diese vier Namen stehen exemplarisch für insgesamt 468 Kolleg*innen an den höheren Schulen, die zu den ersten Opfern der Nazi-Diktatur in Berlins Schulen gehörten. Ende 2013 hatte die GEW BERLIN Simone Ladwig-Winters und Hans Bergemann beauftragt, den »Prozess der Gleichschaltung der Lehrerverbände sowie die Diskriminierung und Verfolgung Berliner Lehrkräfte im Nationalsozialismus« zu erforschen. Zunächst ist festzuhalten, dass es leider nur Dokumente von den höheren Schulen gibt. Von den damaligen Volksschulen, die unter kommunaler Verwaltung standen, sind keine Akten überliefert. Die Forschung war bisher von etwa 150 Opfern von Verfolgung an den höheren Schulen ausgegangen. Dass es mehr als dreimal so viele waren, zeigt, wie notwendig die Untersuchung war.

In kürzester Zeit wurde die Demokratie beseitigt

Direkt nachdem Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, begann er, in allen staatlichen Bereichen Leitungspositionen mit NS-Leuten zu besetzen und Ausgrenzungsmaßnahmen rechtsförmlich zu unterlegen. Die Abschaffung der Demokratie begann unverzüglich. Nach den Neuwahlen am 5. März 1933 beschloss der Reichstag am 23. März 1933 das sogenannte »Ermächtigungsgesetz«, womit die rechtsstaatliche Struktur des Deutschen Reiches endgültig beseitigt war. Aber bis dahin war die Umstrukturierung der Schulverwaltung schon weit vorangeschritten und die ersten Maßnahmen gegen Lehrkräfte, die der NS-Regierung kritisch gegenüberstanden, bereits erfolgt. Über die Verhaftung Fritz Ausländers hatte die – noch freie – Presse berichtet. Aber die Gründe für die Verhaftung erfuhren nicht einmal seine Verteidiger. Als Fritz Karsen von der Karl-Marx-Schule von der Verhaftung erfuhr, ergriff er sehr schnell die Flucht. Sein Kollege Ernst Wildangel entschloss sich ebenfalls zu diesem Schritt.

Nachdem der Reichstag das »Ermächtigungsgesetz« beschlossen hatte, setzte unmittelbarer Terror ein. Bereits vor dem Erlass wurde beispielsweise Felix Behrendt, Oberstudiendirektor des reformorientierten Staatlichen Gymnasiums Neukölln in seiner Dienstwohnung von jungen Männern in SA-Uniform überfallen und schwer misshandelt. Elternvertreter*innen des evangelischen Elternbundes, offenbar schon auf nationalsozialistischer Linie, forderten daraufhin nicht etwa die Bestrafung der Täter, sondern Behrendts Entfernung aus dem Dienst.

Mit dem sogenannten »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (BBG) vom 7. April 1933 wurde schließlich die rechtsförmliche Grundlage geschaffen, Menschen aus rassistischen oder politischen Gründen aus dem Dienst zu entfernen, mindestens jedoch zu degradieren. Das Gesetz umfasste 18 Paragraphen, in 5 von ihnen wurden die Zwangsmaßnahmen geregelt. Paragraph 3 legte fest, dass Beamte nicht »arischer« Abstammung in den Ruhestand zu versetzen waren. Aus den Archiven geht hervor, dass 146 Kolleg*innen dieser Regelung zum Opfer fielen. Auf die Ausgrenzung politischer Gegner*innen zielte Paragraph 4: »Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden«. An den höheren Schulen in Berlin waren 33 Personen von dieser Regelung betroffen. Nach Paragraph 5 konnte eine Versetzung in ein anderes Amt derselben oder gleichwertigen Laufbahn oder in ein solches von geringerem Rang und planmäßigem Diensteinkommen vorgenommen werden. Die beiden Historiker*innen fanden 108 Menschen, die nach dieser Regelung behandelt wurden. Der Paragraph 6 verzichtete gänzlich auf eine konkrete Begründung und sah die Versetzung in den Ruhestand »zur Vereinfachung der Verwaltung« vor. So wurden 74 Menschen in die Armut entlassen. Nimmt man noch einige Fälle hinzu, bei denen die Archive nicht eindeutig belegen, welche Regelung angewendet wurde, dann fielen allein an den höheren Schulen 389 Kolleg*innen diesem »Gesetz« zum Opfer.

Sah das BBG noch Ausnahmen wie zum Beispiel Soldaten des ersten Weltkriegs vor, so entfielen diese mit dem »Reichsbürgergesetz« (RBG) vom 15. Juni 1935, einem der Nürnberger Rassegesetze. Der nun folgenden erneuten Ausgrenzungswelle fielen weitere Menschen zum Opfer. Insgesamt ergeben sich 468 von Ausgrenzung Betroffene, davon 179 Frauen und 289 Männer. Das entspricht 12,4 Prozent der Lehr-kräfte an den höheren Schulen Berlins. Nimmt man diese prozentuale Größenordnung auch an den Volksschulen an, kann von deutlich über 1.000 betroffenen Lehrkräften ausgegangen werden, die aus rassistischen oder politischen Gründen aus dem Dienst entfernt, in ein Amt mit niedrigerer Besoldung degradiert oder an eine andere Schule versetzt wurden.

Die Lehrerverbände halfen nicht

Die Studie beschäftigte sich auch mit der Rolle der Lehrerverbände. Halfen diese den ausgegrenzten Kolleg*innen? Die kurze Antwort lautet: Nein, sie halfen nicht. Das NS-Regime sah vor, alle Lehrkräfte im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) zu organisieren und übte entsprechenden Druck auf die Verbände aus.

Lediglich die AFLD (Allgemeine Freie Lehrergewerkschaft Deutschlands) kritisierte von Anfang an die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und warnte vor der Diktatur. Sie informierte über die schnell einsetzenden Repressionen gegen Parteien und Organisationen der linken Arbeiterbewegung und rief zum Widerstand gegen die Hitler-Papen-Regierung auf. Sie konnte bald nur noch unter konspirativen Bedingungen agieren. Auf einem außerordentlichen Verbandstag, der trotz der schwierigen Umstände Mitte April 1933 in Berlin stattfinden konnte, löste sie sich schließlich auf, um einem Verbot und der Beschlagnahme der Verbandsakten und des Vermögens zuvorzukommen.

Über den DPhV (Deutscher Philologenverein), den ADLV (Allgemeiner Deutscher Lehrerinnenverein) und den BLV (Berliner Lehrerverein), den man als Vorgängerorganisation der GEW BERLIN betrachten kann, schreiben Ladwig-Winters und Bergemann: »Nach den Wahlen vom 5. und 12. März 1933, die eine Mehrheit für die NSDAP und ihre deutschnationalen Koalitionspartner im Reichstag und den preußischen Provinziallandtagen brachten, gaben die drei Verbände ihre politische Zurückhaltung auf. Alle drei legten ein Treuebekenntnis für das neue Regime ab: der DPhV am 22. März, der BLV am 23. März und der ADLV am 10. April 1933. Ob die Bekenntnisse aus ehrlicher Überzeugung, aus taktischen Erwägungen oder aus einer Mischform dieser Haltungen erfolgten, lässt sich nicht eindeutig ausmachen. Unterlagen zu den internen Auseinandersetzungen sind nicht überliefert. Fest steht, dass es keinen direkten Druck von außen auf die Vereine gab oder die Aufforderung, sich zu positionieren. Allerdings war eine schrankenlose Begeisterung für die ›nationale Erhebung‹ weit verbreitet. Hinzu kam ein Klima der Einschüchterung durch den anhaltenden Straßenterror der SA und die Ausgrenzung und Verfolgung der politischen Gegner und Gegnerinnen und der jüdischen Bevölkerung.«

Jüdische und andere missliebige Kolleg*innen wurden von ihren Verbänden im Stich gelassen und waren schutzlos dem einsetzenden Terror ausgesetzt. Das Verhalten der Lehrer*innenverbände entsprach dabei der Haltung eines sehr großen Teils ihrer Mitgliedschaft. Auch wenn die Erkenntnis nicht neu ist, bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Die preußischen Lehrkräfte waren mehrheitlich streng konservativ, autoritär und nationalistisch eingestellt, sie zählten überwiegend zu den Unterstützer*innen eines Obrigkeitsstaates und stellten sich der »Machtergreifung« der Nazis nicht entgegen.

Mit Berufsverbot ging soziale Ächtung einher

Welche Folgen hatten nun die Zwangsmaßnahmen für die betroffenen Kolleg*innen? Je nach Betroffenengruppe waren die Auswirkungen sehr unterschiedlich, wobei das Berufsverbot den tiefsten Einschnitt verursachte. Die materielle Lage entwickelte sich, insbesondere für diejenigen, die ohne Ruhegeld entlassen wurden, sehr schnell prekär. Mit dem Berufsverbot einher ging die soziale Ächtung, die Arbeitszusammenhänge gingen verloren, häufig folgten auch Ausschlüsse aus Vereinen und Clubs. Ist dies alles für sich schon schlimm genug, war es jedoch für viele erst der Anfang dessen, was schließlich mit KZ und Ermordung endete.

Susanne Engelmann wird nach ihrem Berufsverbot zunächst Privatlehrerin und übernimmt Funktionen im Paulus-Bund, bis sie auch dort als Jüdin ausgeschlossen wird. 1939 kann sie in die USA emigrieren. Fritz Ausländer verdient nach seiner Entlassung aus dem KZ seinen Lebensunterhalt zunächst mit Adressenschreiben, später als Mitarbeiter der Deutschen Buch-Gemeinschaft. Nach Kriegsbeginn 1939 wird er erneut verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach einem Suizidversuch wird er Weihnachten 1939 aus der Haft entlassen, 1943 nimmt er sich unter nicht eindeutig geklärten Umständen das Leben. Erich Löwenthal arbeitet nach seiner Entlassung als Lehrer an einer jüdischen Oberschule und freiberuflich als Lektor, vor allem im jüdischen Schocken-Verlag. Als der Verleger Lambert Schneider zum Kriegsdienst eingezogen wird, leitet Löwenthal heimlich den Verlag. Sein Bemühen um Emigration ist vergeblich. Er wird im März 1943 ins KZ Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Der Verleger Lambert Schneider würdigt nach Kriegsende den ermordeten Freund, indem er bei allen Neuauflagen der Klassikerausgaben Löwenthal als Herausgeber nennt. Lina Mayer-Kulenkampff hatte nach dem Tod Hindenburgs den Eid auf Hitler verweigert und stellte von sich aus den Antrag auf Versetzung in den Ruhestand. Dann verliert sich bis 1945 ihre Spur. Nach dem Krieg übernimmt sie die Leitung des Oberlin-Seminars für Kindergärtnerinnen und leitet schließlich das Pestalozzi-Fröbel-Haus.

Viele Lehrkräfte schlugen sich mit Privatunterricht durch, anderen gelang es, zunächst Beschäftigung in einer jüdischen Schule zu finden. Solche Schulen gab es in Trägerschaft von Gemeinden und Vereinen sowie in privater Trägerschaft. Auch die meisten jüdischen Schüler*innen wurden zwangsweise an diese Schulen umgeschult. Die Fluktuation an den jüdischen Schulen war sowohl bei den Lehrkräften als auch bei Schüler*innen hoch. Viele Schüler*innen zogen bald eine praktische Ausbildung vor, anderen gelang es, zu emigrieren. Als die Deportationen in die Konzentrationslager einsetzten, war ein geregelter Schulbetrieb nicht mehr möglich. Fast täglich verschwanden Schüler*innen, und auch die Kollegien wurden immer stärker dezimiert. Die nach dem Krieg vorgebrachte Ausrede, von allem »nichts bemerkt zu haben«, wirkt vor diesem Hintergrund umso fragwürdiger. Die Autor*innen beschreiben in ihrem Untersuchungsbericht das schlimme Schicksal von insgesamt elf solcher Schulen.

In den Schul-Archiven wird sich etwas finden lassen

Welche Lehren können wir ziehen? Die Zeit des Nationalsozialismus liegt mittlerweile mehr als 70 Jahre zurück, Zeitzeug*innen gibt es immer weniger. Aus der vorliegenden Untersuchung geht sehr klar hervor, wie schnell die Republik abgeschafft worden ist. Es hat nach Hitlers »Machtergreifung« nicht einmal ein Vierteljahr gedauert bis zum Ermächtigungsgesetz und dann zum Gesetz zur »Wiederherstellung« des Berufsbeamtentums, das die Grundlage für massenhafte Ausgrenzungsmaßnahmen war.

Die Abschaffung von Demokratie kann überall nach ähnlichem Muster ablaufen. Schauen wir uns um in der Welt, beobachten wir aktuelle Entwicklungen. Vielleicht erkennen wir Muster wieder, die an die damaligen Abläufe erinnern. Und bleiben wir vor allem nicht still, wenn wir Ähnlichkeiten zu damaligen Abläufen feststellen. Die Menschheit muss nicht jede Erfahrung mehrfach machen!

Was können die Schulen heute mit den Erkenntnissen dieser Studie anfangen? Der Untersuchungsbericht beschreibt 468 Einzelschicksale und ordnet diese einzelnen Berliner Schulen zu. Viele Schulen haben Archive, die bis in die damalige Zeit zurückreichen. Setzt doch die Schüler*innen im Geschichts- oder im PW-Unterricht einmal darauf an, ob die Archive etwas über die an der Schule betroffenen Lehrkräfte und ihr Schicksal hergeben. Welche Spuren haben die Kolleg*innen in ihren Schulen hinterlassen? Da wird sich etwas finden lassen! Und die Schüler*innen werden erkennen, in welcher räumlichen Nähe die NS-Verbrechen stattgefunden haben.

Wer fündig geworden ist, schreibe an die Redaktion der bbz. Wir geben es an die Autor*innen weiter. Vielleicht können wir einzelne Porträts in unserer bbz vorstellen. Oder es wird anhand neuer Erkenntnisse eine weitere Studie in Auftrag gegeben. Es wäre spannend zu erfahren, wie es denen ergangen ist, die Krieg und Verfolgung überstanden haben.

Bezugsmöglichkeiten

Interessierten Schulen oder Schulklassen stellen wir sehr gern ein Exemplar der Studie "Verfolgte Lehrkräfte" zur Verfügung. Meldet euch bitte bei uns über info@gew-berlin.de