Glosse
Neumond, Gehenkte und heulende Wölfe
Das Spannendste an Klassenfahrten? Der Kölner Dom, das Modemuseum? Nein, es sind die Nächte. Wenn die Lehrkraft endlich schläft, huschen die lieben Kleinen durch die Flure, beschmieren sich mit Zahnpasta, belauern sich auf dem Klo und feiern kichernd Pyjama-Partys. Frühreife klettern aus dem Fenster und wandern zur Dorfdisco. Oder sie sitzen auf dem nächsten Hügel, rauchen und bellen den Mond an. Und vergessen, dass man nachts die Tür nicht mehr von außen öffnen kann. Die halblauten Bitten um Einlass hört natürlich auch die Lehrerin, die Rache für ihre gestörte Nachtruhe schwört. Um solche unruhigen Nächte zu vermeiden, sind Lehrer stets bemüht, die Kinder tagsüber müde zu wandern. Aber die Jugend ist zäh und hält ohne Schlaf länger durch als die Erwachsenen. Notfalls schlafen die lieben Kleinen am anderen Tag im Bus, auf dem Weg zur Tropfsteinhöhle oder zur Porzellanfabrik. Die Lehrerin, die sich um ihren Schönheitsschlaf betrogen fühlt, lässt über den Bordlautsprecher deutsche Schlager spielen, was der Busfahrer mit großem Vergnügen tut. Tiefschläfer im Bus weckt die Lehrerin durch Fauchen und Rütteln: »Wenn ich nachts nicht schlafen kann, schlaft ihr jetzt auch nicht!«
Und keine Klassenfahrt ohne Nachtwanderung. Fragen Sie mal im Bekanntenkreis. Nahezu jeder kann eine abenteuerliche Story erzählen. Wobei man den Eindruck gewinnt, dass die Lehrkörper beim nächtlichen Happening ihren latenten Sadismus ausleben und die Schülerschaft offen ihren Masochismus genießt. Die einen wollen spuken, die anderen wollen sich gruseln. Grundvoraussetzungen für Gruselerlebnisse sind Dunkelheit und Stille. Die Smartphones müssen im Schullandheim bleiben, falls sie nicht ohnehin Klassenfahrtsverbot haben. Und wenn sich dann der Mond hinter die Wolken schiebt und man gar nichts mehr sieht, kann das auch für Lehrer gruselig werden. Wo ist der Weg? Wo sind Finn und Marie? Der Wald steht schwarz und schweiget. Marie und Finn bleiben verschwunden. Der Begleitlehrer, der sie suchen geht, kommt auch nicht wieder. Stattdessen dringt leises Wolfsgeheul durch die Bäume. Allen stellen sich die Haare auf. Woher soll man wissen, dass die Mörderwölfe, die neuerdings in Deutschland unterwegs sind, Grundschüler von Rehen und Schafen unterscheiden können? Vier Kinder, die vorausgehen, rennen auf einmal panisch zurück. »Frau Neureuter, da hängt eine Leiche!« Wie furchtbar, denkt die Lehrerin. Was soll sie jetzt tun? Hier, allein mit der Klasse? Sie biegt sehr zögerlich um die Ecke. Tatsächlich, da hängt einer im Baum. Die Lehrerin schaudert’s. Schrecklich. Sie hat noch nie einen Toten gesehen. Zwei Mädchen brechen in Tränen aus. Die Lehrerin würde das jetzt auch gern tun. Ihr zittern die Hände. Aber sie als Erwachsene muss ja stark und tapfer sein. Mit ihrer Notfalltaschenlampe beleuchtet sie den Toten. Erst, als sie kurz vor ihm steht, bemerkt sie, dass er aus Stroh ist und anscheinend noch von einer fremden Nachtwanderung hier hängt. Die Lehrerin ist froh, als sie nach zwei Stunden das Schullandheim wiederfindet. Das hat sie nun davon, dass sie sich kein Smartphone mit GPS zulegen will. Im Heim sitzt ihr Kollege mit Finn und Marie. Sie trinken heißen Kakao und heulen ganz leise wie Wölfe.
Eine andere Klasse bricht allein zur Nachtwanderung auf. Ihre Lehrer hatten dazu keine Lust und schnarchen gerade tief und fest. So ein Wald kann ganz schön groß sein. Und im Dunkeln sieht man die Apfelsinenschalen, die den Rückweg markieren sollten, nicht. Irgendwann erreichen die Jugendlichen eine Straße und treffen auf eine Polizeistreife. Ein hochgewachsener Junge (7. Klasse!) gibt sich als Lehrer aus und die Polizisten erklären ihm hilfsbereit, wie er mit seinen Kindern zurück zur Herberge kommt. Solche Geschichten erfahren Lehrer dann Jahre später bei Klassentreffen. Genauso wie die nächtlichen Disco-Besuche, den übermäßigen Verzehr von Schnapspralinen und die gemeinsame Nacht aller 25 Mädchen und Jungen in einer der winzigen Holzhütten.
Die junge dynamische Sportlehrerin will eine Nachtwanderung für vier Klassen organisieren. Die nichtsahnenden Schüler sollen aus dem tiefen Schlaf vor Mitternacht geschreckt und in den Wald gejagt werden. Zwei Kollegen gehen mit Bettlaken voraus. Sie werden in einem Gebüsch auf die einzelnen Klassen warten, ihnen gespenstisch entgegenspringen und Zaubersprüche wie »Aramsamsam« murmeln. Eine Kollegin findet die verabredete Spukstelle gar nicht erst und führt 25 verschlafene Kinder wieder heim ins Bett. Die Parallelklasse hingegen verfügt über viel Kampfgeist und fällt über die Gespenster her. Einer haut noch weiter, als er längst gemerkt hat, dass unter dem Laken seine Sportlehrerin steckt. Das gibt großen Ärger, als alle wieder zurück in Berlin sind. Der eifrige Schläger bekommt einen Schulverweis. Die Kindsmutter und ihr Anwalt erklären, dass der Missetäter aus nackter Panik überreagiert hätte und dass die Lehrerin selber schuld sei, wenn sie ein paar auf die Rübe bekommt. Warum reißt sie die Kinder auch aus dem Schlaf und verkleidet sich als Gespenst? Der arme Junge sei jetzt schwer traumatisiert und könne nur noch bei Festbeleuchtung schlafen. Der Schulleiter muss die Schulstrafe zurücknehmen. Danach gibt er strenge Anweisung, Nachtwanderungen nur noch bei Tageslicht durchzuführen …
Dieser Text ist auf Wunsch der Autorin nicht nach den Richtlinien der Redaktion gegendert.