Perspektive Quereinstieg
Quereinsteiger*innen bereichern
Die neuen Lehrkräfte bauen Brücken in die Welt. Fachfremdes Personal kann Schulen weiterhelfen.
Die Entfernung eines entzündeten Blinddarms zählt im Krankenhaus zu den leichteren ärztlichen Übungen. Aufschneiden, Appendix abklemmen und kappen, zunähen – spätestens nach einer halben Stunde ist der Patient vom Wurmfortsatz befreit. Doch stellen Sie sich die folgende Szene vor: Sie liegen auf dem OP-Tisch, das Narkosemittel beginnt Ihre Nervenbahnen zu umschließen, da eröffnet Ihnen die Schwester beiläufig, dass der Chirurg kürzlich in Rente gegangen und bislang keine Nachfolge gefunden sei. Der Eingriff werde deshalb vertretungsweise vom Kollegen aus der benachbarten Tierklinik vorgenommen. Der habe gerade noch einen Chihuahua kastrieren müssen, sei aber unterwegs.
Rufen Sie nicht gleich die Bundesärztekammer an, die Geschichte ist natürlich komplett erfunden. Erfunden von Lehrer*innenverbänden und Gewerkschaften in Deutschland, die mit diesem drastischen Vergleich seit Jahren auf den Lehrkräftemangel aufmerksam machen und gegen die Besetzung der vakanten Stellen mit Seiteneinsteiger*innen ohne pädagogische Ausbildung protestieren wollen. Auch in diesem Schuljahr, da über 40 Prozent der neueingestellten Lehrer*innen in Berlin und mehr als die Hälfte der Noviz*innen in Sachsen nie ein Lehramtsstudium absolviert haben, hat der Krankenhaus-Vergleich Konjunktur.
Es braucht pädagogisch-psychologisches Know-How
Aber ist er auch berechtigt? Die Dinge verdienen eine differenziertere Betrachtung. Wer Kinder und Jugendliche unterrichten will, braucht einerseits unzweifelhaft eine professionelle Qualifikation. Neben dem rein fachlichen Wissen sind auch fachdidaktische Kompetenzen gefragt, um die Inhalte mit adäquaten Lehrmethoden in sinnreiche 45-Minuten-Häppchen zu packen. Es braucht pädagogisch-psychologisches Know-How, um die Lernmotivation der Schüler*innen wecken und auch mit schwierigen Kindern umgehen zu können. Das lernen Lehrkräfte in der Aus- und Fortbildung, vielfach unterstützt durch das Engagement von Stiftungen.
Auch die Seiteneinsteiger*innen an den Schulen müssen so schnell und so gut wie möglich damit »nachgerüstet« werden. Hier stehen die Länder in der Pflicht. Und die Schulen selbst, die ihre Neuen eng begleiten und »on the job« coachen müssen. Gelingt dies nicht, droht die von den Berufsverbänden und Gewerkschaften befürchtete Katastrophe an den Schulen und damit einhergehend, eine Abwertung der Lehrer*innenausbildung. Lehrer*in sein – kann doch jede*r? Eben nicht! Andererseits ist es heute gang und gäbe, dass Menschen nicht mehr ihr gesamtes Berufsleben in ein und demselben Unternehmen oder mit ein und derselben Tätigkeit zubringen. Lebenslanges Lernen lautet die Devise. Natürlich ist der Seiteneinstieg oft ein Sprung ins kalte Wasser, und natürlich macht man anfangs Fehler.
Das gilt auch für die Schule, wo die Beschäftigung von Seiteneinsteiger*innen eine Frage des richtigen Maßes ist. An Grundschulen etwa, wo die Basis für den Bildungsweg, und vor allem den Bildungserfolg, der Kinder gelegt wird, spielt die Pädagogik eine besondere Rolle. Hier sollte ein abgeschlossenes Lehramtsstudium zwingende Zugangsvoraussetzung sein. Leider ist gerade an dieser Schulform der Lehrer*innenmangel mit am größten und der Anteil der Seiteneinsteiger*innen immens. Das ist ein Skandal.
Die Schule leidet an ihrer Selbstreferenzialität
Weniger spricht indes gegen Seiteneinsteiger*innen an anderen Schulformen. Mit ihrer Praxiserfahrung aus früheren beruflichen Kontexten bringen sie dort eine Perspektive ein, die häufig vermisst wird. Denn das »Biotop Schule« leidet seit jeher an seiner Selbstreferenzialität. Von der Schule an die Universität und anschließend zurück an die Schule – so sieht immer noch die typische Lehrer*innenkarriere aus.
Noch ein Argument pro Seiteneinsteiger*innen: Schule muss heute andere Aufgaben meistern als vor 20 Jahren. Inklusion, Integration, digitale Bildung und Ganztag sind zentrale Stichworte. Es ist weder verwunder- noch verwerflich, dass unsere Lehrer*innen sich damit zunehmend überfordert fühlen. Um für die Zukunft gerüstet zu sein, muss sich Schule für Personal mit anderen Erfahrungshintergründen öffnen. Multiprofessionell statt selbstreferenziell – das ist die Lösung.
Sonderpädagog*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen sind ohnehin vielerorts schon unverzichtbarer Teil der Kollegien. Hinzu kommen bald sicher noch ganz neue Berufsbilder, IT-Hausmeister*innen und Bildungstechnolog*innen zum Beispiel. In solch einem diversen Arbeitsumfeld hätten dann auch Lehrer*innen, die über andere Wege als das grundständige Lehramtsstudium in den Beruf finden, ganz selbstverständlich ihren Platz, eine schnelle und professionelle Nachqualifizierung vorausgesetzt. Sie werden als Brückenbauer*innen in die außerschulische Welt benötigt.
Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst im Tagesspiegel erschienen. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Zweitabdruck.