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Gewerkschaft

Recht auf politischen Streik

Eine neue Dissertation bezweifelt, dass die starken Einschränkungen des Streikrechts in Deutschland haltbar sind.

Foto: Christian von Polentz

Wenn in Frankreich Beschäftigte gegen die Rentenreform streiken, nehmen sie ihr in der Verfassung garantiertes Recht auf Streik wahr. In Deutschland würde ein Streik, der sich nicht an die Arbeitgeber*innen richtet, sondern Forderungen an den Staat stellt, als nicht rechtmäßig eingestuft werden. Wenn der Adressat eines Streiks der Staat ist, handelt es sich laut der juristischen Definition um einen politischen Streik. Die Folge wäre eine Klage auf Schadensersatz gegen die Gewerkschaft, die zum Streik aufgerufen hat. In den meisten europäischen Ländern gibt es eine solche Beschränkung des Streikrechts auf Tarifverhandlungen nicht. Wie kommt es dazu, dass Streiks hierzulande nur zulässig sind, wenn sie einen Tarifbezug haben?

 

Kein gesetzliches Verbot

 

Im Grundgesetz ist mit dem Artikel 9 Absatz 3 die Koalitionsfreiheit und damit auch das Streikrecht garantiert. Es gibt allerdings nirgends ein gesetzliches Verbot von politischen Streiks. Das Streikrecht ist in Deutschland Richter*innenrecht, das heißt es wird von den Entscheidungen der Arbeitsgerichte genauer bestimmt. Die Auslegung des Artikels 9 ist umstritten und wurde bis heute in der Rechtsprechung immer auf eine Weise interpretiert, die Streiks nur innerhalb bestimmter Grenzen als legal wertet.

Im Dezember 2023 hat die AG für ein umfassendes Streikrecht in der GEW BERLIN eine gut besuchte Veranstaltung mit der Rechtswissenschaftlerin Theresa Tschenker organisiert. Etwa 80 Teilnehmer*innen diskutierten im GEW-Haus und online zugeschaltet über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, das restriktive deutsche Streikrecht auszuweiten. In der Diskussion ging es unter anderem um die Frage, wofür und in welchen Bereichen politische Streiks sinnvoll wären.

Tschenker hat sich in ihrer Dissertation mit dem politischen Streik auseinandergesetzt und die historische Entwicklung des Verbots untersucht. Die Einschränkung hat eine lange Tradition, die bis in die 1950er Jahre der Bundesrepublik zurückreicht. Eine zentrale Figur ist dabei der Arbeitsrechtler Hans Carl Nipperdey mit seinem Gutachten zum Zeitungsstreik 1952. Er legte damals die Kriterien für die Rechtmäßigkeit von Streiks fest: Der Streik muss gegen die Arbeitgeber*innen gerichtet sein, es muss um die Arbeitsbedingungen gehen und das Ziel des Streiks muss durch arbeitsrechtliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen verwirklicht werden können. Für Nipperdey waren Streiks generell ein unerwünschtes Übel und sollten möglichst vermieden werden. Das Streikrecht wurde vom Bundesarbeitsgericht erst 1980 als Grundrecht anerkannt, da Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik nicht mehr als kollektives Betteln seien. Der Tarifbezug des Streikrechts blieb jedoch bis heute erhalten.

 

Vom Grundgesetz gedeckt

 

Tschenker geht jedoch davon aus, dass auch politische Streiks vom Grundgesetz gedeckt sind, wenn sie einen Bezug zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen haben. Auch völkerrechtlich ist ein umfassendes Streikrecht begründbar. Die Bestimmungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Europäischen Sozialcharta (ESC) haben einen weitergehenden Begriff des Streikrechts. In der ESC ist dieses als ein Menschenrecht konzipiert, das Streiks für Belange, die in einem Bezug zur Arbeit und der sozialen Wirklichkeit der Arbeitnehmer*innen stehen, umfasst.

In vielen Bereichen, wie zum Beispiel der Pflege oder Bildung, sind die Arbeitsbedingungen stark mit politischen Entscheidungen verknüpft. Deswegen reichen Tarifverträge mit den Arbeitgeber*innen oft nicht aus, um wirkliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu erzielen. So muss zum Beispiel für eine bestimmte Personalbemessung im Krankenhaus auch die Finanzierung geändert werden. Tschenker betonte, dass deswegen Streiks auch gegen die Gesetzgebung, also gegen den Staat, notwendig und rechtlich möglich wären.

 

Der Vortrag kann hier nachgehört werden:
https://rechtaufstreik.noblogs.org/2023/12/bericht-zur-veranstaltung-recht-auf-politischen-streik

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46