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Schwerpunkt „Ukraine und Russland – Furchen eines Krieges“

Russische Schulen unter Kriegsbedingungen

Igor Smirnow* hat als Lehrer in Russland gearbeitet und sich am Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft beteiligt. Wegen seines Engagements gegen den Krieg befindet er sich seit Herbst 2022 im deutschen Exil.

Foto: Jan Ole Arps

bbz: Wie hat der Krieg das Schulleben in Russland verändert?

Igor Smirnow: In den ersten Monaten nach der Invasion in die Ukraine gab es für Schulen keine nennenswerten Veränderungen. Einige Lehrkräfte, die offen eine Antikriegshaltung vertraten, bekamen Schwierigkeiten, aber nicht wegen ihrer Arbeit an der Schule, sondern wegen politischer Aktivitäten.

Im späten Frühjahr 2022 begannen hochrangige Beamt*innen und Abgeordnete über die Notwendigkeit einer systematischen ideologischen Arbeit in Schulen zu sprechen. Im Sommer wurde beschlossen, dass ab dem Schuljahr 2022/23 wöchentliche »Unterrichtsstunden über wichtige Dinge« gehalten werden sollen, in denen das Kriegsgeschehen propagandistisch begleitet wird. Außerdem soll jede Woche die Nationalhymne gespielt und die Flagge gehisst werden.

Auf lokaler Ebene wurde dies ergänzt, zum Beispiel durch das Schreiben von Briefen an Soldaten oder die Herstellung von Tarnnetzen in Arbeitslehre. In letzter Zeit werden immer mehr Menschen, die an der Front gekämpft haben, auch solche mit Vorstrafen, eingeladen, in Schulen zu unterrichten. Einige ehemalige Soldaten wurden bereits fest angestellt.

Die Veränderungen im Schulleben, Beschränkungen der Meinungsfreiheit und die zunehmende Rolle der Propaganda haben zu einer Abwanderung von Lehrkräften ins Ausland geführt, besonders an Schulen mit einem besonderen pädagogischen Programm, zum Beispiel für Hochbegabte.

 

Werden auch praktische Militärübungen im Unterricht durchgeführt?

Smirnow: Bisher haben Schüler*innen der Oberstufe in dem Fach »Grundlagen der Lebenssicherheit« elementare Kenntnisse über den Militärdienst erhalten. Weitergehende militärische Basisschulungen wurden nur auf regionaler oder schulischer Ebene eingeführt. Eine zentrale Regelung dazu soll ab September 2024 gelten, aber es gibt bisher weder Lehrbücher dafür, noch ausgebildete Lehrkräfte.

 

Welche Handlungsoptionen haben kritische Lehrkräfte im Umgang mit der Propaganda?

Smirnow: Für die »Stunden über wichtige Dinge« gibt es zentral bereitgestellte Themenpläne, Präsentationen und Materialien. Und dann hängt alles von der Schulleitung ab. Viele liberale Schulleiter*innen sagen den Kolleg*innen, dass sie das offizielle Thema ins Klassenbuch schreiben sollen, aber worüber sie wirklich mit den Kindern sprechen, sei nicht wichtig. Es gibt viele Kolleg­*innen, die diese Stunden nutzen, um über Ökologie oder über andere wichtige Themen zu sprechen.

In der Schule, in der ich gearbeitet habe, hat der Schulleiter im Kollegium offen Stellung bezogen: »Es tut mir leid, dass wir diesen Blödsinn machen sollen. Lasst uns eine Arbeitsgruppe bilden, die genau nachliest, was die Vorgaben sind und was wirklich von Externen überprüft werden könnte. Sie wird einige Hinweise für die anderen und Anpassungen der Materialien vorbereiten. Aber wenn es wichtige Punkte gibt, sind wir als staatliche Schule verpflichtet, sie zu befolgen. Sonst werden wir geschlossen.«

 

Das ist sicherlich kein typisches Beispiel.

Smirnow: Nein, unsere Schule ist eine Besonderheit. In ihrem Umfeld herrscht eine sehr demokratische Atmosphäre. Wenn wir anfangen würden, im Unterricht Propaganda zu betreiben, würde die Hälfte der Lehrkräfte die Schule verlassen, und dasselbe gilt für die Schüler*innen und Eltern. Die würden lieber auf eine Privatschule oder ins Ausland gehen. In unserer Schule ist auch eine der ersten Betriebsgruppen unserer Gewerkschaft entstanden.

In der Mehrheit der Schulen im Land ist das ganz anders. Es gibt dort auch Fälle, in denen Schüler*innen, Eltern oder auch Kolleg*innen Lehrkräfte denunzieren und Berichte an den Sicherheitsdienst schreiben.

 

Wie laufen Propagandastunden ab, wenn der Schulleiter diese befürwortet?

Smirnow: Er kann auch seinen Stellvertreter in den Unterricht schicken, um zu kontrollieren, was passiert, und dann musst du jede Folie der Präsentation zeigen. Deine einzige Chance ist es dann, es ohne emotionale Beteiligung zu machen. Wenn du eine gute Lehrkraft bist, fällt dir das leicht. Die Schüler*innen werden bemerken, ob du wirklich hinter der Propaganda stehst.

Wir haben Lehrkräften mit methodischen Leitfäden, Aufgaben und Texten geholfen, sodass sie immer noch ins Klassenbuch schreiben können »Das Problem des Separatismus«, aber sie können über echte Probleme sprechen. Dazu gehören auch alternative Materialien mit historischen Beispielen von anderen Kriegen, die Lehrkräfte nutzen können, um über die Folgen von Kriegen zu sprechen.

 

Was ist aus deiner Sicht die Motivation für den Krieg?

Smirnow: Ich denke, dass dieser Krieg vor allem wahltaktische Gründe hat. Wenn etwas funktioniert, dann rührt man es nicht an, und für Putin ist klar, dass Krieg für ihn funktioniert. Er ist in der Innen- und Wirtschaftspolitik sehr schwach, aber er ist gut darin, einen Krieg für die Wahlpolitik zu nutzen.

Damit hat seine Karriere begonnen. Es war der zweite Tschetschenienkrieg ab 1999, als er sagte: »Jelzin konnte das Problem mit Tschetschenien nicht lösen. Ich werde es schnell machen und für Ordnung sorgen.« Es war ein blutiger Krieg, aber Putin hat ihn gewonnen und seine Umfragewerte waren sehr hoch, es war ein gangbarer Weg für ihn.

Das hat einige Jahre lang funktioniert, aber im Jahr 2011 gab es große Proteste gegen Wahlfälschungen und Probleme im Gesundheits- und Bildungsbudget. Die Menschen begannen, Fragen zu stellen. Sie hatten schon lange keine Lohnerhöhungen mehr bekommen und es war bereits Putins dritte Amtszeit.

Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2014 die Krim annektiert. Der »Krim-Konsens« in der russischen Gesellschaft machte Putin wirklich zu einer Art nationalem Führer über alle sozialen Unterschiede hinweg, denn es ging nun um den historischen Weg des Landes, um die Krim als Teil des historischen Russlands. Putins Zustimmungswerte lagen extrem hoch, bei 80 Prozent.

Außerdem hat er einen Konfliktherd im Osten der Ukraine geschaffen, um den ukrainischen Staat unter Kontrolle zu bringen. Russland hatte bereits während der Jelzin-Periode in Moldawien eine ähnliche Taktik verfolgt und später auch in Georgien solch einen »eingefrorenen Konflikt« geschaffen.

 

Wie charakterisierst du das derzeitige Regime?

Smirnow: Wir haben jetzt eine Regierung, die an dieselben Ideen glaubt, wie sie vom historischen Faschismus vertreten wurden: dass der Krieg ein Instrument der Politik ist, dass wir einen besonderen historischen Weg in der Geschichte gehen, dass wir die traditionellen Werte bewahren, dass wir die internationale Ordnung ändern und gegen die ungerechte Dominanz der USA antreten. Diese Ideologie beinhaltet auch, dass die Ukrainer*innen keine eigene Ethnie, sondern eigentlich Russ*innen seien, die aber der westlichen Propaganda anhängen. Es ist nicht einfach, diesen Faschismus mit ein paar Worten zu beschreiben, aber das sind einige Ideen, die im politischen Diskurs dominieren.

Was wir jedoch nicht haben, ist eine mobilisierte Gesellschaft. Im deutschen Nationalsozialismus war die Gesellschaft sehr mobilisiert, es gab eine aktive Unterstützung aus der Bevölkerung. Das Putin-Regime kann zwar ein Stadion mit Leuten füllen, die Fahnen schwenken, aber es gibt nur sehr begrenzt eine soziale Basisbewegung. Sie können nicht plötzlich für politische Ziele mobilisieren, nachdem sie 30 Jahre lang auf Vereinzelung gesetzt haben.

 

Wie zeigt sich diese Ideologie im Bildungswesen?

Smirnow: Es gibt ein neues Lehrbuch der russischen Geschichte, das im Sommer 2023 veröffentlicht wurde und in Schulen verwendet werden soll. Der Autor ist einer der Berater des Präsidenten, der frühere Minister Medinski. Ein Text, der die neueste Geschichte darstellt, rechtfertigt Krieg im Allgemeinen, nicht nur diesen Krieg gegen die Ukraine. Krieg sei nicht nur, wie in der konservativen Realpolitik, ein Instrument, um militärisch das zu tun, was wir wirtschaftlich nicht schaffen, sondern ein normaler Teil unserer Politik. Und wenn es notwendig ist, dann sollten wir für immer Krieg führen.

 

Wie wird der Krieg unter Gewerkschaftsmitgliedern diskutiert?

Smirnow: Unter den Mitgliedern der unabhängigen Gewerkschaften in der KTR gibt es unterschiedliche Positionen. Das sind schließlich keine politischen Gruppen, sondern eine Vertretung der arbeitenden Menschen. Aber es gibt dort überwiegend eine Haltung gegen den Krieg, sowohl an der Basis als auch in Führungsgremien. In der FNPR ist die Situation eine völlig andere. Dessen Führer*innen unterstützen den Krieg ausdrücklich. Die Bildungsinternationale hat die Mitgliedsrechte der russischen Bildungsgewerkschaft in der FNPR wegen ihrer Kriegsunterstützung suspendiert. Auch die meisten Aktivist*innen der FNPR-Gewerkschaften sind für den Krieg.

Bei den nicht aktiven Mitgliedern ist das schwieriger zu sagen. Wie kann man eine Position messen, wenn es verboten ist, über das Thema zu diskutieren? Es gibt Instrumente, wie man das in einer autoritären Gesellschaft machen kann. Dabei wird zum Beispiel gefragt: »Wenn der Präsident beschließt, diesen Krieg fortzusetzen, werden Sie ihn unterstützen oder nicht?« Das nimmt den Leuten die Verantwortung für die Antwort ab. Dem unabhängigen soziologischen Forschungsbüro Russian Field zufolge unterstützen bei dieser Frage insgesamt 70 Prozent der Menschen die Entscheidung des Präsidenten, den Krieg entweder fortzusetzen oder zu beenden. Das sind natürlich unterschiedliche Gruppen, 40 Prozent unterstützt jede Entscheidung des Präsidenten.

Das ist eine gute Erklärung dafür, was in der Gesellschaft passiert. Die Mehrheit ist unpolitisch und will keine Verantwortung übernehmen. Die wollen nur ihre eigene Familie und ihre eigenen Geschäfte: »macht was ihr wollt und lasst uns in Ruhe«.

Es gibt jeweils 20 Prozent auf beiden Seiten, die politisiert sind. Aber die eine Seite hat die Macht des Staates und die andere Seite ist im Gefängnis, im Ausland oder ohne jede Möglichkeit, sich zu organisieren. Denn Organisationen werden immer dann zerstört, wenn sie einflussreich werden. Vielleicht sind nur die Gewerkschaften eine Ausnahme, weil ihre Tätigkeit nicht als politisch, sondern als wirtschaftlich gilt. Da wird in Russland eine künstliche Trennung vorgenommen.

 

Waren die Gewerkschaften zu Beginn des Krieges Teil der öffentlichen Proteste?

Smirnow: Die KTR hat auf ihrer Website eine Erklärung gegen den Krieg veröffentlicht. Sie befindet sich dort immer noch. Die unabhängige Lehrkräftegewerkschaft hat keine eigene Erklärung veröffentlicht, sondern versucht, die Lehrkräfte zu organisieren, die eine Antikriegsposition haben. Eine Erklärung als »Lehrkräfte gegen den Krieg« wurde von 5.000 Kolleg*innen unterstützt. Als Organisationen waren die unabhängigen Gewerkschaften nie Teil der Proteste, aber viele Mitglieder beteiligten sich als individuelle Aktivist*innen. Gewerkschaftsmitglieder können auch verdeckt tätig sein, Geld für politische Gefangene sammeln oder Menschen unterstützen, die vor dem Krieg geflohen sind. 

 

Das Interview wurde im August bis Dezember 2023 geführt, stark gekürzt, teilweise aus dem Englischen und teilweise aus dem Russischen übersetzt.
*Der Name des Kollegen wurde geändert. Seine gewerkschaftliche Funktion ist der Redaktion bekannt.

 

Lesetipp

Der Moskauer Lehrer Maksim Iwanow* hat für die bbz im Dezember 2023 einen Artikel »über Propaganda, Meinungsfreiheit und die Freiheit der Lehre« geschrieben.

 

FNPR
Die Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands ist die Nachfolgeorganisation der sowjetischen Gewerkschaften. Sie steht der Regierung nahe. https://fnpr.ru/eng/

 

KTR
Die Konföderation der Arbeit Russlands ist ein kleinerer Dachverband, der aber unabhängiger und
konfliktbereiter als die FNPR agiert. https://t.ktr.su/en/

 

Erklärung der »Lehrkräfte gegen den Krieg«, 3/2022

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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