Schule
Schule im Schatten des Nahost-Konflikts
Viele Schüler*innen in Berlin sind direkt betroffen, gerade deshalb muss der Konflikt im Unterricht behandelt werden. Konstantin Kieser über die Herausforderungen der Demokratiebildung und die Bedeutung von Dialog.
Direkt nach dem Massaker der Hamas an der Zivilbevölkerung in Israel beschäftige ich mich innerlich damit, wie ich das Thema im Unterricht behandeln werde. Mir ist klar, dass das unausweichliche Gespräch in der nächsten Schulstunde mit meiner 9. Klasse nicht einfach werden wird. Ich weiß, dass einige der Schüler*innen Familie in der Region haben und kann mir schon denken, welche reißerischen Propagandavideos bei TikTok bereits die Runde machen.
Unterricht zwischen Empathie und Konflikt
In dieser Stunde fürchte ich mehr denn je, dass die Schüler*innen größtenteils nicht ausreichend in der Lage sind, journalistische Beiträge von Desinformation und persönlichen Statements zu unterscheiden und welche fatalen Auswirkungen das haben kann. Viele können die Bild- und Videoflut auf ihren Smartphones nicht emotional verarbeiten, geschweige denn differenziert einordnen. Der Algorithmus bedient zudem stereotyp ihre Sehgewohnheiten. Wie sollen sie sich da eine Meinung bilden?
Zum Einstieg zeige ich also einen Nachrichtenbeitrag, in dem die wichtigsten Ereignisse des Wochenendes knapp zusammengefasst werden, und frage, ob es Redebedarf gibt. Es dauert etwas bis eine Schülerin ihre Skepsis ablegt, doch dann sprudelt es aus ihr heraus, wie ungerecht sie die einseitige Positionierung Deutschlands findet. Sie empört sich über die westliche Doppelmoral, die für sie immer dann besonders sichtbar wird, wenn die Bevölkerung eines islamisch geprägten Landes eine Katastrophe erlebt und »niemand darüber berichtet oder das Brandenburger Tor anstrahlt«. Mir ist diese Wut lange bekannt und ich kann sie auch verstehen.
Ich lasse sie aussprechen und versuche mich in einer Erklärung über das Bedürfnis vieler Menschen, in diesen dunklen Stunden Solidarität mit dem einzigen jüdischen Staat und seinen Bewohner*innen zu zeigen. Die besondere Verantwortung Deutschlands muss ich dabei nicht lange erklären. Wir lesen gerade ein Jugendbuch über das Ende der Weimarer Republik, in dem die Auswirkungen des wachsenden SA-Terrors auf Juden*Jüdinnen in Berlin dezidiert beschrieben werden. Bisher habe ich bei meinen Schüler*innen nichts als Empathie für die Verfolgten wahrgenommen.
Für Außenstehende könnte zwischendurch dennoch der Eindruck entstehen, es käme nicht sonderlich viel Mitleid mit den Zivilist*innen auf, die von der Hamas kaltblütig ermordet, gefoltert und teilweise verschleppt wurden. Zu sehr steht auch kurz nach dem Angriff der Hamas das im Vordergrund, was in der Radikalisierungsprävention »Opferkonkurrenz« genannt wird: Betroffenheiten werden gegeneinander aufgerechnet. Zudem habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht den Eindruck, dass alle Schüler*innen das Ausmaß der Gewalttaten begriffen haben, beziehungsweise überhaupt darüber informiert sind.
In ihren Wortbeiträgen verurteilen die Schüler*innen die Tötung von Zivilist*innen auf beiden Seiten klar. Sympathien für die Hamas nehme ich an keiner Stelle wahr. Auf die historische Existenz von jüdischem Leben in der Region weit vor der Staatsgründung Israels muss ich zunächst zwar hinweisen, das Existenzrecht wird – zumindest in dieser Klasse – jedoch nicht bewusst in Frage gestellt oder negiert.
Die Diskussion ist dennoch schwer zu führen, zu schnell entstehen Missverständnisse. Eine Schülerin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn will von mir wissen, ob ich es okay finde, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft jedes palästinensische Symbol mit einer Sympathiebekundung von Terror gleichsetzt. Direkt im Anschluss kommt die Frage auf, warum es überhaupt Werbung für den israelischen Gegenschlag auf Youtube gibt. Erst später finde ich heraus, dass diese Werbeclips vom »Ministry of Diaspora Affairs« stammen, welches der israelischen Regierung untersteht.
Eine meiner Schüler*innen wird offensichtlich von einem Familientrauma eingeholt und von ihren Emotionen überwältigt. Immer wieder bricht ihr die Stimme weg, als sie versucht, mich auf die anhaltenden Auswirkungen der Vertreibung von palästinensischen Familien aufmerksam zu machen. Verzweifelt wehrt sie sich gegen die vermeintliche Darstellung, dass Israel den Frieden suche. Sie ringt unter Tränen um die richtigen Worte und vergleicht »unsere Situation« mit der Berliner Mauer. Dabei kritisiert sie nicht ausschließlich Israel, sondern prangert auch die Rolle der arabischen Staaten an.
Spontan entscheide ich mich, die inhaltlichen Diskussionen vorerst zu vertagen und versichere mich, ob sich alle in der Klasse wohl fühlen. Eine sachliche Debatte kann nach meiner Überzeugung erst stattfinden, wenn ausreichend Raum und Zeit für berechtigte Emotionen aller Beteiligten gegeben wurde. Bis dahin gilt es, das Vertrauensverhältnis zu den Schüler*innen nicht durch Belehrungen oder mit nicht nachvollziehbaren Verhaltensregelungen zu untergraben.
Mit Meinungsfreiheit zum Schulfrieden
Im weiteren Verlauf der Woche, kocht das Thema auch in Berlin weiter hoch. Der Vorfall am Ernst-Abbe-Gymnasium wird – zurecht – nicht nur unter uns Pädagog*innen diskutiert. Vielen Kolleg*innen scheint ihre Verantwortung und die Notwendigkeit zur Differenzierung dabei sehr wohl bewusst. Vereinzelte Provokationen auf dem Schulhof werden von unserem Kollegium aus meiner Sicht professionell und konsequent gelöst. Wir haben zum Ende der Woche das Gefühl, trotz chronischer Überlastung einen guten Job gemacht zu haben. In diese Situation hinein platzen pauschale Demonstrationsverbote, Berichte über antisemitische Übergriffe, Videos von Ausschreitungen und rassistischer Polizeigewalt in Neukölln und das Schreiben der Bildungssenatorin zur Wahrung des Schulfriedens.
Viele meiner Kolleg*innen bezweifeln umgehend den deeskalierenden Charakter einer solchen Verordnung. Von einer Schülerin werde ich in einer Geschichtsstunde zum Deutschen Kaiserreich unmittelbar gefragt, ob ich finde, dass in Deutschland im Moment noch Meinungsfreiheit herrsche. Sie kenne Menschen, die Angst davor hätten, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren, wenn sie friedlich ihre Meinung ausdrücken wollen. Ich antworte ihr, dass die Bevölkerung für Meinungsfreiheit und Demokratie immer wieder neu eintreten muss. Vor allem dann, wenn man sie in Gefahr sieht.
Für mich bedeutet dieses Eintreten für Meinungsfreiheit, Verallgemeinerungen im Schreiben der Senatorin und vergleichbare Pauschalisierungen entschieden zurückzuweisen. Eine Gleichsetzung von allen Palästinenser*innen – leben sie nun im Gazastreifen, dem Westjordanland, Israel, den umliegenden Nachbarstaaten oder Deutschland – mit dem Terror der Hamas ist nicht nur undifferenziert, es treibt unter Umständen Menschen in die Radikalität und könnte so zum Brandbeschleuniger werden.
Die Schwierigkeit: Der Kampf gegen Antisemitismus muss ebenso unmissverständlich wie differenziert und ausdauernd geführt werden. Das ist für alle ein zum Teil schmerzhafter Spagat zwischen der deutschen Verantwortung für die Gräueltaten der Nationalsozialisten, der jüdischen Bevölkerung in Israel und Berlin und unser aller gemeinsamer Zukunft in einem Einwanderungsland. Jouanna Hassoun, Geschäftsführerin von Transaidency e.V., hat das sehr treffend formuliert: »Antisemitismus lässt sich nicht mit Rassismus bekämpfen! Menschlichkeit und Humanität schließen niemanden aus, sofern sie aufrichtig sind!«
Dialog und Medienbildung fördern
Viele unserer Schüler*innen sind dem antimuslimischen Rassismus von Kindesbeinen an ausgesetzt, der nun durch eine verkürzte Debatte erneut und teilweise auch gezielt befeuert wird. Oftmals geschieht das leider auch an unseren Schulen.
Der Hinweis darauf bedeutet nicht, Antisemitismus zu verharmlosen, sondern die Gleichzeitigkeit beider Entwicklungen anzuerkennen und zu berücksichtigen. Wer den Schul- und Gesellschaftsfrieden sowie den politischen Frieden wahren will, muss in der Lage sein, genau diesen Balanceakt zu bewältigen, statt die Bequemlichkeit eines Lagerdenkens in Anspruch zu nehmen und damit zu definieren, wer Recht hat und wer nicht. Vor diesem Hintergrund verwundert es schon, dass noch vor einigen Wochen Kürzungen von Mitteln für Dialog- und Demokratiebildungsprojekte im Raum standen, die erst nach anhaltenden Protesten aus der Zivilgesellschaft wieder rückgängig gemacht wurden.
Auch bei der Medienbildung gilt es an Schulen mehr zu investieren. Mit ein paar Klicks können virtuelle Realitäten erschaffen werden und Kinder sind zugleich psychisch immer stärker belastet – ob durch eigene traumatische Kriegserfahrungen oder soziale Härten. So steigt die Gefahr, dass sie digitale Medien für den persönlichen Eskapismus einsetzen. Eben das ist der Nährboden für sogenannte »Turbo-Radikalisierungen«. Der Senat muss sich im Umgang mit diesen Herausforderungen an seinen Taten messen lassen. Der erste Schritt wäre, den Konflikt in den Schulen nicht weiter durch unüberlegte und undifferenzierte Anordnungen zu schüren.