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Schwerpunkt „Ukraine und Russland – Furchen eines Krieges“

Ukrainer*innen in Berlin

Ukrainische Lehrkräfte, Schüler*innen in Willkommensklassen, Erwachsene auf dem Weg der beruflichen Integration – wir haben mit Geflüchteten und Pädagog*innen gesprochen.

Gemälde: Halyna Halstian

Der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien war an der Helene-Lange-Schule in Steglitz ein besonderer Tag: Ella K. hat mit und für ukrainische Schüler*innen eine Weihnachtsfeier organisiert. In der Aula der Schule haben sich ungefähr 90 ukrainische Schüler*innen und ihre Lehrkräfte versammelt. Voller Stolz tragen die Darsteller*innen des Krippenspiels traditionelle Kostüme, die Mädchen haben liebevoll ihre Haare in geflochtenen Frisuren hergerichtet und mit Schmuck ihrer Heimat verziert. Es ist ein festlicher Anblick und man spürt die Freude der Jugendlichen. Eingebettet in das Krippenspiel sind ukrainische Weihnachtslieder.

Ella K. ist Biologie- und Chemielehrerin aus der Ukraine. Sie lebt seit drei Jahren in Berlin und unterrichtet seit eineinhalb Jahren an der Helene-Lange-Schule. Im Anschluss an die Aufführung führt sie ein Quiz zu ukrainischen Weihnachtsbräuchen und -gerichten durch. Es fällt auf, dass die Jugendlichen mit sehr unterschiedlicher kultureller Prägung und Wissen nach Berlin gekommen sind. Sie stammen aus verschiedenen Regionen, manche sind mit Russisch als Muttersprache aufgewachsen.

 

Begegnungsschule

 

Ella K. zeigt großes Einfühlungsvermögen: »Wir haben viele Herausforderungen, es ist zum einen die Fluchterfahrung, dazu kommt noch Corona. Vor Ausbruch des Krieges hatten die Kinder zwei Jahre lang keine richtige Schule. Emotionale und familiäre Probleme und besonders der fehlende Vater sind immer präsent.« Auch die Doppelbelastung durch den Online-Unterricht an ihren Schulen in der Ukraine ist für die Schüler*innen eine Herausforderung.

Die Helene-Lange-Schule ist im Verbund mit der Kreuzberger Aziz-Nesin-Grundschule von der Senatsbildungsverwaltung als Deutsch-Ukrainische Begegnungsschule eingerichtet worden. Der Schulleiter Harald Leppler berichtet, dass an der Schule schon vor dem Krieg drei Lehrkräfte aus der Ukraine und eine Lehrkraft aus Russland im Regelbetrieb tätig waren. Dies sei zu Beginn des Krieges eine große Hilfe bei der Integration ukrainischer Schüler*innen gewesen. Leppler konnte noch sechs weitere ukrainische Lehrkräfte einstellen. Neben den Regelklassen besuchen die Helene-Lange-Schule aktuell 90 Schüler*innen aus der Ukraine. Sie werden in sechs Klassen unterrichtet, verteilt auf die Jahrgänge 7 bis 10. Unterricht findet je nach Fach auf Ukrainisch, Deutsch oder bilingual statt. Das Modell der Begegnungsschule wird gut angenommen: »Die ukrainischen Familien und Lehrkräfte sind der Senatsverwaltung sehr dankbar für die Einrichtung der ukrainischen Begegnungsschule«, meint Ella K.

 

Herausforderungen für geflüchtete Schüler*innen

 

Die überwiegende Zahl der geflüchteten Schüler*innen könne sich die Schule jedoch nicht aussuchen, berichtet Claudia Lichnofsky. Sie ist Lehrerin an einer ISS im Bezirk Mitte und hat auch Erfahrung in verschiedenen Willkommensklassen in Berlin, auch mit ukrainischen Schüler*innen. Lichnofsky weist darauf hin, dass Schüler*innen ab 12 Jahren einer Willkommensklasse mit freien Plätzen an einer Schule ihres Wohnbezirkes zugewiesen werden. »Problematisch ist dann der Übergang in eine Regelklasse, weil die Plätze an weiterführenden Schulen belegt sind. Freie Plätze gibt es meist nur an nicht sehr nachgefragten Schulen«, meint Lichnofsky. »Dabei sind Schulen in den Innenstadtbezirken für ukrainische Schüler*innen sehr ungewohnt.«

Solche Differenzerfahrungen ließen sich auch damit erklären, dass die Ukraine keine Einwanderungsgesellschaft sei, erklärt Alina Maschke, die als Expertin für das Konzept Healing Classrooms (HC, siehe Seite 36) beim International Rescue Committee (IRC) Deutschland arbeitet. Die deutsche Gesellschaft sei im Vergleich heterogener, dies erfordere Geduld in der pädagogischen Arbeit mit neu angekommenen ukrainischen Schüler*innen. Maschke ist selber ukrainische Muttersprachlerin und hat Deutsch als Zweitsprache erlernt.

Maschke beschreibt, dass ukrainische Schüler*innen durch den Krieg einen Kontrollverlust erlebt haben, sie hatten keinen Einfluss auf das Geschehen und wurden nach Deutschland mitgenommen. Hier bestehe weiterhin Unsicherheit über die Perspektive der Familie. Viele hätten auf eine schnelle Rückkehr in ihre Heimat gehofft und wären zunächst wenig motiviert gewesen, Deutsch zu lernen. Die Familien seien zerrissen, oft kämpfe der Vater an der Front. Einige Kinder und Jugendliche verweigerten sogar den Unterricht, da sie eine Teilnahme als Verrat am Vater empfänden.

»Der HC-Ansatz unterstützt die Schulen bei der gemeinsamen Entwicklung mit den Lehrkräften, den Schüler*innen ein Umfeld zu bieten, in dem sie in ihren sozial-emotionalen Kompetenzen gefördert werden«, so Maschke. »So gewinnen Kinder und Jugendliche ihr Selbstvertrauen wieder zurück, lernen mit eigenem inneren Stresserleben umzugehen und entwickeln einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft.«

 

Zerrissene Familien

 

Jessika Tsubakita hat im Schuljahr 2022/23 an Grundschulen in Zehlendorf unterrichtet, in denen ukrainische Schüler*innen direkt in den Regelunterricht integriert wurden und zusätzlichen Förderunterricht in Deutsch als Zweitsprache erhielten. Auf sie wirkten viele dieser Schüler*innen, als wären sie »gar nicht richtig hier« und »irgendwie auf dem Sprung«. Sie habe sich deshalb bemüht, den Kindern im Schulalltag Räume zu bieten, in denen sie sich entspannen und sicher fühlen könnten. »Sie müssen merken, dass sie Teil der Schulgemeinschaft sind. Dafür muss von der deutschen Seite aus auch etwas kommen, gerade wenn die Schüler*innen nicht so offensiv mit der Herausforderung Schule umgehen.« Tsubakita rät deshalb zu intensiver Kommunikation mit den Schüler*innen.

Im Unterrichtsstoff der Regelklasse seien ukrainische Schüler*innen den Berliner Schüler*innen oft voraus, beobachtet Lichnofsky. Manche würden berichten, dass sie den Stoff in Mathematik schon zwei Jahre zuvor behandelt hätten. Für ältere Schüler*innen, die in der Ukraine bereits einen ersten Schulabschluss nach der 9. Klasse erlangt haben, sei es außerdem nicht sehr attraktiv, im Berliner Schulsystem den Schulbesuch fortzuführen, denn sie bekämen ihren Abschluss in Berlin nur als Berufsbildungsreife anerkannt. Sie müssten zunächst Deutsch lernen, dann mindestens die 10. Klasse besuchen und an den Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss teilnehmen, um dann nach weiteren drei Jahren vielleicht das Abitur zu bestehen. In der Ukraine wird das Abitur bereits nach 11 Schuljahren erreicht. Somit sei es verständlich, dass Jugendliche in vielen Fällen anstrebten, lieber als externe*r Schüler*in den ukrainischen Abschluss zu erlangen, meint Lichnofsky. Deshalb würden viele Jugendliche ihre Priorität auf die Online-Angebote ihrer ukrainischen Schule legen, und nicht auf das Erlernen der deutschen Sprache.

»Viele Möglichkeiten bleiben auch noch ungenutzt«, findet Tsubakita. So würden Hilfestellungen durch Integrationslotsen nur wenig nachgefragt. Eltern von ukrainischen Schüler*innen sollten verstärkt die im Schulgesetz neu verankerte Möglichkeit einfordern, ergänzenden Unterricht in der Erstsprache an der Schule anzubieten.

 

Geflüchtete in der Erwachsenenbildung

 

Auch für geflüchtete Erwachsene hat sich das Leben von einem Tag auf den anderen verändert. Ihr Familienleben, ihre Arbeit, ihr Zuhause, alles mussten sie zurücklassen.

Veronika L. ist Journalistin und Redakteurin aus Odessa, sie hat dort zwei Diplome erworben. Sie ist gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Kind, das kurz vor Kriegsbeginn geboren wurde, im März 2022 nach Berlin geflohen. Ihre Mutter hatte bereits eine Bekannte in Berlin, somit hatten sie eine Anlaufstelle.

Veronika L. nimmt an einem Deutschkurs an vier Tagen mit jeweils vier Stunden teil. »Wir kriegen mit, dass es an Kita-Plätzen mangelt und wollen niemandem einen Platz wegnehmen. Mama kann auf das Kind aufpassen, während ich im Kurs bin.« Bei ihrer beruflichen Integration hat Veronika L. eine gute Beratung im Jobcenter auf Deutsch und Englisch erlebt, mit ihr wurde darüber gesprochen, welche beruflichen Perspektiven nach Abschluss des Deutschkurses für sie möglich wären. Veronika L. strebt zunächst einen Job als Graphic Designerin an, weil in diesem Bereich die sprachlichen Anforderungen mit dem Niveau B2 geringer sind. Für Journalist*innen wird das Niveau C2 verlangt. Perspektivisch wünscht sie sich eine Arbeit in der Werbung oder wieder als Journalistin.

Maria N. ist im März 2022 mit ihrem damals einjährigen Sohn allein nach Berlin geflüchtet. Der erste Zug brachte sie nach Polen, sie hatte große Angst, dass der Krieg sich auch noch auf andere Länder ausbreitet und überlegte sogar, nach Kanada zu fliehen. Ihr Weg führte nach Berlin, hier fühlt sie sich sicher. »Ich hatte großes Glück, ein Mann, der für einige Monate im Ausland arbeitete, stellte mir seine Wohnung zur Verfügung. Eine Nachbarin half mir bei Behördengängen und vollbrachte das Wunder, einen Kitaplatz für meinen Sohn zu finden. Somit konnte ich einen Sprachkurs beginnen.«

Maria N. spricht für ihre kurze Zeit in Berlin ein bemerkenswert sicheres Deutsch. Sie hat Diplome in Kunstdesign und Lehramt Kunst. In der Ukraine hat sie an einer privaten Kunstschule unterrichtet, war außerdem in einer Galerie als Künstlerin tätig und hat die Restauration von Bildern, aber auch eigene Ölmalerei betrieben. Ihr Diplom wird in Deutschland anerkannt. Um jedoch als Lehrerin arbeiten zu können, muss sie einen Sprachnachweis erbringen, als freischaffende Künstlerin ist dies nicht erforderlich. Perspektivisch möchte Maria N. als Lehrerin arbeiten. »Im Moment sehe ich meine Zukunft in Berlin, ich weiß nicht, was in ein paar Jahren ist.« Maria N. ist stets in Sorge um ihre Eltern und ihren Mann in der Ukraine. Sie will für ihr Kind stark sein, damit es ihm gut geht.

 

Perspektive für den ukrainischen Schulabschluss

 

Für die Schüler*innen der Helene-Lange-Schule scheint sich unterdessen eine zusätzliche Möglichkeit zu entwickeln. Schulleiter Leppler berichtet, dass seine Schule sich in der Vorstufe eines Schulversuchs befindet. Der von Ella K. und anderen Lehrkräften erteilte ukrainischsprachige Geschichtsunterricht soll für den ukrainischen Schulabschluss anerkannt werden. Perspektivisch seien sowohl der deutsche als auch der ukrainische Abschluss an der Helene-Lange-Schule geplant. Vielleicht eröffnen sich damit auch noch mehr Möglichkeiten, qualifizierte ukrainische Lehrkräfte zügig an Schulen anzustellen.

 

Die Interviews führten Nicola Kub und Christoph Wälz. Die Namen der ukrainischen Interviewpartnerinnen wurden auf deren Wunsch anonymisiert.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46