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Tendenzen

Unter Generalverdacht

Mit massivem Polizeiaufgebot kontrollieren Ämter und Behörden regelmäßig Shisha-Bars, Cafés und Barber-Shops. Warum das rassistisch ist und was das mit den Betroffenen macht, erklärt Sebahat Kandemir von der Initiative »Kein Generalverdacht«.

Foto: Adobe Stock

bbz: Sebahat, du engagierst dich in der Initiative kein Generalverdacht (KGV). Wer seid ihr und was macht ihr?

Kandemir: Hier in Neukölln gibt es viele Razzien gegen sogenannte Clankriminalität; das heißt, LKA, Ordnungsamt und Polizei stürmen mit massivem Aufgebot Geschäfte von Inhaber*innen mit Migrationshintergrund, da sie annehmen, diese wären kriminell. Außer Kleinigkeiten wird nicht viel gefunden. Die Folgen für Besitzer*innen und Anwesende sind aber oft verheerend. Läden mussten am Ende schließen, obwohl die Inhaber*innen gar nichts gemacht hatten, und das ist ungerecht. Was macht es für einen Eindruck, wenn solche Razzien bei dir stattfinden? Da geht keine*r mehr hin. Diese Razzien finden überwiegend bei Menschen statt, die einen Migrationshintergrund haben. Das ist rassistisch und stigmatisierend. Wir stellen uns also gegen die Stigmatisierung von Migrant*innen. Wir machen Flashmobs, Demos, Kundgebungen, sammeln Unterschriften und sprechen mit Betroffenen. Wir kritisieren vor allem auch die Gewalt gegenüber den Menschen, die von diesen Razzien betroffen sind.

Wie verhält sich die Polizei bei den Razzien?

Kandemir: Das Verhalten der Polizei ist oft richtig übertrieben. In einem Spätkauf beispielsweise wurden Angestellte geschlagen, obwohl die gar nichts dafür können, dass der Laden am Sonntag offen ist. Das sind doch keine Kriminellen. So ein Vorgehen erschüttert bei den Anwesenden das Vertrauen in den Rechtsstaat und verunsichert. Sie fragen sich dann auch: Was habe ich mit irgendwelchen Clans zu tun? Warum benimmt sich die Polizei so? Wieso passiert das nur Ausländer*innen und Migrant*innen? Auch Minderjährige berichten von überzogener Polizeigewalt bei den Razzien in Shishabars. Das sind Orte, an denen sich viele Neuköllner Jugendliche treffen, die das zuhause nicht können, deshalb sind sie für diese dann auch überwiegend safe spaces. Bis eben die Polizei kommt und sie, obwohl sie gar nichts gemacht haben, wie Kriminelle behandelt werden.

Was macht das mit Jugendlichen, die solche Erfahrungen machen?

Kandemir: Ich habe einmal auf einen Freund gewartet, der nicht kam. Warum? Weil er ohne Grund drei Stunden auf einer Polizeistation saß, weil er irgendwo mit Freunden war und für irgendwas verantwortlich gemacht wurde, was er gar nicht getan hat. So verlieren Jugendliche das Vertrauen in die Polizei. Sie fühlen sich ungerecht behandelt und bekommen manchmal auch Angst vor der Polizei. Das tradiert sich auch. Schon meine Mutter hat gesagt, »die Polizei wird dir niemals helfen.« Von Jugendlichen, die nachts zuhause Razzien hatten, wegen einer Abschiebung oder weil irgendwer etwas angestellt haben soll, weiß ich, dass diese danach tagelang nachts nicht schlafen konnten. Eine Freundin hätte den Polizist*innen, die ihr Zimmer morgens um sechs Uhr durchsuchten, gerne erklärt, dass sie mit »Warum-auch-immer-die-da-sind« nichts zu tun hat, aber wir Jugendlichen machen oft die Erfahrung, dass die Polizei uns sowieso nicht zuhört.

Was passiert, wenn diese Jugendlichen selber Hilfe von der Polizei brauchen?

Kandemir: Ein Freund rief mal die 110 an, weil er von einer Frau bespuckt und beleidigt wurde, und die sagten zu ihm: »Was lässt du dir das auch von einer Frau gefallen?« Sie sind dann nicht gekommen. Ich selber war mal bei einer Polizeikontrolle im Auto dabei, da haben sie einen Freund von mir schikaniert. Sie haben behauptet, im Auto hätte es nach Haschisch gerochen, dabei haben wir beide nichts mit Drogen zu tun. Jungen oder Männer mit sogenanntem Migrationshintergrund machen oft andere Rassismuserfahrungen als ich als Frau. Sie werden oft für aggressiv, sexistisch, ungebildet gehalten, und die Leute haben Angst vor ihnen. Medien berichten gerne über die vermeintliche Clankriminalität,  und Jungen mit sogenanntem Migrationshintergrund kommen in deren Darstellung selten gut weg.

Was ist eigentlich unter Clankriminalität zu verstehen?

Kandemir: Die Clan-Debatte hatte ursprünglich einen Bezug zu organisierter Kriminalität. Mittlerweile werden unter der Bezeichnung »Clan-Kriminalität« aber alle möglichen Straftaten sowie vollkommen belanglose Ordnungswidrigkeiten zusammengefasst, deren Täter*innen eine Migrationsgeschichte haben. In der Jahresbilanz Clankriminalität der Berliner Polizei aus dem Jahr 2019 besteht die statistisch größte Sparte aus Verstößen gegen die Verkehrsordnung und trotzdem wird ein riesiges Bedrohungsszenario aufgebaut.

Seit wann gibt es diese Razzien und warum, glaubst du, passieren sie?

Kandemir: Ein Neuköllner Stadtrat hat sich damit gebrüstet, dass er viel Mühe investiert, damit Neukölln wieder »ansehbar« wird. Was sollen wir darunter verstehen, wir, die schon lange hier wohnen? Das wir nicht ansehbar sind? Und um ansehbar zu werden, werden Migrant*innen nun schikaniert und an den Rand von Berlin gentrifiziert. Oder von Neukölln Nord nach Neukölln Süd. Diese Politik ist dem Ziel geschuldet, dass sich andere hier sicherer fühlen sollen, dabei war Neukölln immer schon ein sicherer und lebenswerter Ort. Jetzt wollen die hier die hippen Leute, und die Migrant*innen sollen gehen. Statt Spätkäufen hippe Bars. All das vermittelt uns, die wir hier schon ewig wohnen, das Gefühl, nicht gewollt zu sein. Außerdem haben Polizist*innen auch Bilder im Kopf, die sie vermutlich schon in der Ausbildung verinnerlichen. Zum Beispiel durch Statistiken oder die fast durchweg negative Berichterstattung über Männer mit sogenanntem Migrationshintergrund in den Medien. Dadurch ist ein Albert für die Polizei dann weniger verdächtig als eine Person mit einem nicht typisch deutschen Namen oder Aussehen.

Und in der Schule?

Kandemir: Auch da machen wir Rassismuserfahrungen. Meine Lehrkräfte dachten zum Beispiel immer, ich habe viele Geschwister, muss oft auf diese aufpassen, mich um die Familie kümmern, werde geschlagen (denn ich habe bestimmt Ärger, da ich kein Kopftuch trage) und bin Muslimin. Egal, wie oft ich sagte, dass ich nur zwei Schwestern habe, gemerkt hat sich das keine*r. Warst du Migrant*in, wurdest du aufgrund deiner Herkunft gleich für arm gehalten.

In der Schule fühlen sich auch viele im Stich gelassen. In meiner Schulzeit haben wir auch oft gehört, dass wir es nicht draufhaben. Deshalb ist es wichtig, dass es Orte wie die Schilleria, das ist ein Mädchenjugendclub in Neukölln, gibt. Ich bin da schon als Schülerin hingegangen und dort waren immer Menschen, die an mich geglaubt und mich unterstützt haben. Auch wenn wir Stress hatten zuhause oder in der Schule, die Schilleria war immer ein Ort, wo wir hinkonnten. Viele Jugendliche in Neukölln bekommen auch viel Wut ab. Wirst du in der Schule von den Lehrkräften »angekackt«, gehst du nicht mehr hin. Gehst du nicht mehr hin, gibt es Ärger zuhause, dann hängst du auf der Straße ab und bekommst Ärger mit der Polizei.

Was wünschst du dir?

Kandemir: Dass die Razzien endlich aufhören.

Initiative: „Kein Generalverdacht“ https://www.facebook.com/keingeneralverdacht/

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46