Tendenzen
Urlaub, Ferien und plötzlich Braut
Die Gefahr der Heiratsverschleppung steigt in den Sommerferien. Daher ist es sinnvoll, vorbereitet zu sein und einen Notfallplan parat zu haben.
Während Sommerferien für die meisten ein Grund zur Freude sind, steigt für einige Schüler*innen aus streng patriarchalen Familien die Gefahr der Zwangsverheiratung. Oft ahnen Schüler*innen bereits vorher, dass eine »Feier« für sie geplant ist, denken aber, vor Ort trotzdem noch »nein« sagen zu können oder möchten auch einfach nicht wahrhaben, dass die Eltern sie wirklich verheiraten wollen.
Sind die Mädchen und Frauen erst einmal im Herkunftsland der Familie, ist es oft nur noch äußerst schwierig nach Deutschland zurückzukehren. Meist werden ihnen Pässe, Geld und Kommunikationsmöglichkeiten weggenommen. Daher ist es wichtig, im Vorfeld zu sensibilisieren und bei drohender Gefahr gemeinsam mit den Schüler*innen einen »Notfallplan« vorzubereiten. Doch wie viele Betroffene gibt es überhaupt? Bezogen auf Berlin gab es im Jahr 2017 laut einer Umfrage 570 Fälle von versuchter oder vollzogener Zwangsverheiratung. Die meisten Betroffenen waren zwischen 16 und 21 Jahre alt. Zwölf Prozent der betroffenen Mädchen und drei Prozent der Jungen waren jedoch jünger als 16 Jahre. Zudem ergab eine Studie des Bundesfamilienministeriums einen hohen Auslandsbezug, mehr als die Hälfte der Zwangsverheiratungen fand im Ausland statt oder war für dort geplant.
Frühehen bedeuten ein Ende der Kindheit
Seit dem Jahr 2017 beträgt das generelle Mindestheiratsalter in Deutschland 18 Jahre, ohne Ausnahme. Auch religiöse oder traditionelle Verlobungen oder Verheiratungen von Minderjährigen sind verboten. Denn auch wenn »informelle« Eheschließungen oder Verlobungen keine juristische Verbindlichkeit in den Augen des Staates nach sich ziehen, für die Familien und Communities tun sie dies.
Von einer Frühehe wird gesprochen, wenn mindestens einer der Eheleute zum Zeitpunkt der Eheschließung noch nicht 18 Jahre alt war. TERRE DES FEMMES sieht Frühehen als eine Form der Zwangsverheiratung an. Auch wenn die Minderjährigen der Eheschließung scheinbar zustimmen, können Kinder und Jugendliche Folgen und Ausmaß einer verfrühten Eheschließung nicht einschätzen. Das Recht auf Selbstbestimmung und freie Partner*innenwahl bleibt ihnen verwehrt. Auch befinden sie sich in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu den Eltern.
Früh- und Zwangsverheiratung hat verschiedene Gründe: Armut, Traditionen, patriarchale Strukturen, »Ehr«vorstellungen oder eine vermeintliche Schutzfunktion für die Frau. In streng patriarchalen Strukturen gibt es für Mädchen als einzigen Lebensentwurf zumeist nur den der Ehefrau und Mutter, auch hat sie jungfräulich in die Ehe zu gehen. Durch Früh- und Zwangsverheiratungen endet für die Betroffenen die Kindheit oder Jugend. Mädchen müssen oft die Schule verlassen oder dürfen keinen höheren Ausbildungsgrad absolvieren, damit werden die Mädchen und Frauen in starke finanzielle Abhängigkeit zum Ehemann gebracht. Auch Jungen und Männer werden zwangsverheiratet, mitunter auch im Falle von (vermuteter) Homosexualität.
Warnzeichen frühzeitig erkennen
Schulen sind oft der einzige Ort, an denen sich von Früh- oder Zwangsverheiratung bedrohte und betroffene Personen außerhalb der Familie aufhalten können. Sie stellen damit einen zentralen Schnittpunkt der Prävention und Hilfestellung dar. Doch wie bemerke ich einen Fall von drohender Zwangsverheiratung? Warnzeichen sind sehr verschieden und es gilt aufmerksam zu sein. Auffällig ist zum Beispiel, wenn ein Mädchen stark isoliert wird und keine Kontakte oder Aktivitäten außerhalb der Schule haben darf oder wenn die Schwestern minderjährig verheiratet wurden oder sehr jung Mutter geworden sind. Mitunter werden Mädchen stark von (männlichen) Familienmitgliedern kontrolliert und dürfen keine eigenen Entscheidungen treffen, auch hier gilt es besonders hinzuschauen, vor allem, wenn die Eltern aus Ländern mit streng patriarchalen Familienstrukturen kommen. Manche Schüler*innen werden besonders laut, andere auf einmal sehr still oder bedrückt. Wenn ein Mädchen berichtet, dass es die Schule nach den Ferien verlassen muss oder eine Feier für sie (im Herkunftsland der Eltern) vorbereitet wird, sollten wir hellhörig werden. Wenn ein minderjähriges Mädchen berichtet, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern, sondern bei anderen Verwandten wohnt, könnte dies ein weiteres Indiz sein, denn in einigen Fällen werden Mädchen innerhalb der Familie verheiratet, die »Tante« könnte dann auch gleichzeitig die Schwiegermutter sein. Die genannten Anzeichen können, müssen aber natürlich nicht immer auf eine Zwangsverheiratung hinweisen. Wichtig wäre, ein klärendes Gespräch mit dem Mädchen zu suchen und Ansprechbarkeit zu signalisieren.
Früh- und Zwangsehen verhindern
Es ist wichtig, gerade vor den Sommerferien noch einmal Kontakt zu potentiell gefährdeten Schüler*innen zu suchen. So könnten diese Schüler*innen zum Beispiel zu einem Zeugnisgespräch in die Schule gebeten und so Gesprächsbereitschaft geschaffen werden. Breitenwirksam besteht auch die Möglichkeit im Rahmen des Unterrichts oder von Projekttagen für Sprechanlässe zu sorgen, zum Beispiel durch die Behandlung von Menschenrechten.
Wichtig ist bei einem Verdacht auf Zwangsverheiratung NICHT die Eltern zu kontaktieren. Das könnte das Mädchen in erhöhte Gefahr bringen und im schlimmsten Fall dafür sorgen, dass sie noch schneller ins Ausland verschleppt und zwangsverheiratet wird.
Vertraut sich Ihnen ein*e Schüler*in an, klären Sie zunächst die Gefährdungsstufe und den Wunsch der betroffenen Person. Je nach Lage macht es Sinn, einen geschützten Rahmen zum Telefonieren oder Zugang zum Internet zu schaffen und zu erwähnen, dass sich Betroffene auch anonym an Beratungsstellen wenden können, denn diese sind auch bei Gefahr im Verzug oder am Wochenende gut erreichbar. Sie können auch gemeinsam mit den Betroffenen eine spezialisierte Beratungsstelle kontaktieren. Sprechen Sie möglichst alle Schritte mit der betroffenen Person ab und bewahren Sie das Vertrauensverhältnis. Entwickeln Sie gemeinsam einen Notfallplan und machen Sie deutlich, ab welchem Punkt die Polizei oder das Jugendamt eingeschaltet werden muss. Unternehmen Sie am besten auch mit Kolleg*innen im Vier-Augen-Prinzip eine Gefahreneinschätzung. Schalten Sie bei Minderjährigen in Absprache mit der betroffenen Person das Jugendamt oder den Kindernotdienst ein, die gegebenenfalls eine »Inobhutnahme« vornehmen können. Viele Schüler*innen haben Vorbehalte gegenüber dem Jugendamt. Eine gute Möglichkeit kann es daher sein, vorab mit den Jugendlichen das Clearing-Gespräch zu »üben«.
Bei Verdacht auf eine Zwangsverheiratung im Ausland sollte die Reise dorthin unter allen Umständen vermieden werden. Er*sie könnte beispielsweise eine Krankheit vortäuschen.
Falls eine Ausreise nicht verhindert werden kann, sollte der*die Schüler*in Kopien des Passes und des Rückflugtickets, Bargeld, Handy sowie Adressen der deutschen Botschaft versteckt mit sich führen und alle Kopien zusätzlich bei einer Vertrauensperson hinterlegen.
Vor der Abreise sollten potentiell Betroffene bei einer Vertrauensperson die genaue Adresse des Zielortes sowie eine eidesstattliche Erklärung hinterlegen, dass befürchtet wird, im Herkunftsland zwangsverheiratet zu werden und der Wunsch besteht auf jeden Fall nach Deutschland zurückzukommen und, dass alle Schritte für eine Rückkehr eingeleitet werden sollen. Doch auch durch diese Vorsichtsmaßnahmen kann eine Rückkehr nach Deutschland nicht garantiert werden. Insbesondere bei doppelter oder nicht-deutscher Staatsbürgerschaft sind die Möglichkeiten der deutschen Botschaften vor Ort sehr gering.
Was kann ich tun, wenn das Mädchen nach den Sommerferien nicht wiederkommt und ich einen Verdacht auf Zwangsverheiratung habe? Kontaktieren Sie auch in diesem Fall eine spezialisierte Beratungsstelle, wie die Verschleppungsstelle von Papatya. Diese können die Betroffenen eventuell wieder nach Deutschland zurückholen. Weitere Beratungsstellen finden Sie unter www.zwangsheirat.de
Weitere Hinweise sowie Vordrucke findet ihr unter: verschleppung.papatya.org
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