Schwerpunkt "Schule neu denken"
»Vereinheitlichung ist der größte Fehler unserer Zeit«
Helmut Hochschild war Hauptschullehrer, Schulleiter, Schulrat, Seminardirektor und Berater bei Schulentwicklungsprozessen. Unter anderem gab er den Podcast »Schule kann mehr« heraus. Wir wollten wissen: wie kann Schule mehr.
bbz: Du hast den Podcast »Schule kann mehr« gemacht. Was hast du dabei gelernt?
Hochschild: In unserer Gesellschaft wird häufig Vereinheitlichung gefordert, ich habe durch Zuschriften gelernt, dass wir eine hoch diverse Schullandschaft haben und das ist das, was wir tatsächlich brauchen. Vereinheitlichung ist der größte Fehler unserer Zeiten. Gerade die Zuschriften haben mir geholfen, Themen von ganz verschiedenen Perspektiven zu sehen.
Was würden Schüler*innen gerne verändern?
Hochschild: Am besten, sagten Schüler*innen während eines gemeinsamen Projekts im Futurium, lässt sich lernen, wenn die Fächer aufgebrochen werden und Lernwege möglichst selbstbestimmt werden können. Projektarbeit ist hier das Schlüsselwort. Kommunikation auf Augenhöhe mit Lehrkräften war ein weiteres Bedürfnis der Jugendlichen.
Welche Kernprobleme siehst du im heutigen Berliner Schulsystem?
Hochschild: Das Festhalten an traditionellen Strukturen und Methoden. Statt vorgegebene Wege allein zu beschreiten, werden die wichtigen Begriffe Kommunikation, Kooperation und vor allem die Förderung der Selbstständigkeit oft missachtet. Das Abarbeiten der Inhalte des RLP steht immer noch im Mittelpunkt. Die Abschlussorientierung von Schule müsste unbedingt durch eine Lebens- und Übergangsorientierung abgelöst werden. Was Jugendliche zum Beispiel im gesellschaftlichen Leben brauchen, um glücklich zu werden, wird oft außer Acht gelassen.
Wie könnte man das ändern?
Hochschild: Nicht für die Schule lernen, sondern fürs Leben. Die Spielräume im Rahmenlehrplan müssen ausgenutzt werden. Schule muss sich für das Lebensumfeld öffnen und an das Vorwissen der Jugendlichen mehr andocken. Es ist ein Hirnriss, dass so viel Alltägliches, wie zum Beispiel die Nutzung des Smartphones, ungenutzt bleibt und viele Dinge nicht in die Schule reindürfen. Konfliktträchtige Themen werden zu oft tabuisiert oder Lehrkräfte trauen es sich nicht darüber zu sprechen. Institutionen von draußen müssen mit rein. Vernetzung mit Jugendclubs oder populären Persönlichkeiten zum Beispiel. Rechtsextremismus in Brandenburg ist so ein Beispiel, wenn sich Lehrkräfte überfordert fühlen, gibt es viele außerschulische Akteure, die ihre Unterstützung anbieten können.
Obwohl viele Probleme bekannt sind, verändert sich nichts. Warum?
Hochschild: Einerseits aufgrund der Struktur und Starrheit der ausbildenden Universitäten, die eine Fachorientierung und weniger Didaktik in der Ausbildung umsetzen. Auch durch die Tatsache, dass Didaktik und Methodik so eine untergeordnete Rolle spielen, wird der Innovationsprozess gedämpft und das, was sie eigentlich leisten sollten, Wissenschafts- und Studienorientierung von Bildung, wird hintenangestellt. Bildungswissenschaftliche Studien werden zu wenig berücksichtigt. Auch in den Schulen sind große Erhaltungsmechanismen. Das liegt an der Altersstruktur beziehungsweise an älteren Lehrkräfte, die noch auf der Basis des folgenden Zitates einer Bildungspolitikerin ausgebildet wurden: »Wir haben in den 70er mit dem Missverständnis gelebt, dass Chancengleichheit bedeutet, dass alle Kinder das gleiche machen müssen.« Individualisierung und Differenzierung ist immer noch in vielen Schulen nicht angekommen. Ein dritter Erhaltungsaspekt sind die Eltern, die wie auch viele Pädagog*innen glauben, dass das Lernen, welches sie erfahren haben, das Beste sei.
Wie können Eltern erfolgreicher integriert werden?
Hochschild: Gerade, weil sie so ein Erhaltungsfaktor sind, müssen Eltern in innovative Unterrichtsprozesse einbezogen werden. Elternversammlungen müssen anders gestaltet werden, indem zum Beispiel kooperative und kommunikative Methoden mit den Eltern ausprobiert werden und ihnen dabei gezeigt wird, wie alltagsrelevant diese Art der Kompetenzen sind. Damit wird eine Transparenz hergestellt, die eine Vertrauensbasis für die gemeinsame Erziehung der Schüler*innen durch Pädagog*innen in der Schule und den Eltern zu Hause schafft.
Wie könnte sich der Arbeitsplatz Schule für Lehrkräfte verbessern?
Hochschild: Wenn die Lehrkräfte den Kindern und Jugendlichen in der Schule mehr zutrauen würden, mehr Partizipation schaffen würden, dann könnten sich die Lehrkräfte mehr in die Berater*innenrolle zurückziehen, Kinder und Jugendliche würden selbstständiger arbeiten und Lehrkräfte im Unterricht entlasten. Eine Umgestaltung der Lernumgebungen weg vom Frontalunterricht ist dafür in der Klasse wichtig. Der Hauptteil der Belastung liegt in der Vorbereitung dieser Lernumgebung. Die besten Gelingensbedingungen werden von gemeinsam planenden Pädagog*innenteams geschaffen. Auch hier sind Kommunikation und Kooperation wichtige Voraussetzungen, die erst mehr Zeit benötigen, aber dann zu effizientem und zufriedenerem Arbeiten führen.
Und auf der Ebene der Schulleitungen – was muss da anders laufen?
Hochschild: Schulleitung im Team ist eine wichtige Gelingensbedingung für ein gutes kollegiales Arbeitsklima in der Schule. Dadurch wird hohe Transparenz geschaffen und das kreative Potential wird durch die Einbindung in den Schulentwicklungsprozess optimal genutzt. Also die erweitere Schulleitung nicht nur formal, sondern in voller Weise ernst zu nehmen, ist eine wichtige Voraussetzung. So können alle Entscheidungen oder auch Fehler besser nachvollzogen und dadurch aus ihnen gelernt werden. Je mehr Kolleg*innen eingebunden werden, desto besser.
Du hast vorgeschlagen, die Schulaufsicht abzuschaffen, warum?
Hochschild: Das ist der Störfaktor Hierarchie. Ich habe als Schulleitung am meisten davon profitiert, dass ich mit anderen Schulleitungs-Kolleg*innen Erfahrungen abgeglichen habe. In diesem Zusammenhang ist damals ein großes Berliner Hauptschulleitungsnetzwerk und in der Region Reinickendorf ein kleines Netzwerk über alle Schulformen hinweg entstanden. Das war für mich und hoffentlich für die anderen die beste Fortbildung, die ich je in meinem Leben hatte. Erkannte Defizite konnten in gemeinsamer Beratung erkannt und zum Teil beseitigt werden. Andererseits sehe ich, dass viele Entscheidungen der Schulaufsicht administrativ auf der Basis formaler Vorgaben entschieden werden, statt das individuelle Bedürfnis der Schule zu berücksichtigen. In Friedrichshain-Kreuzberg organisiert die Schulaufsicht jedoch als positives Beispiel schultypenübergreifende Schulentwicklungsbereiche. Das heißt Schulleitungen örtlich begrenzter Kieze von Grundstufe bis zum Gymnasium beraten unter Einbeziehung des Jugendamtes und anderer unterstützender Institutionen in regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen jeweils die aktuellen Herausforderungen.
Was denkst du, könnten Schulen trotz schlechter Rahmenbedingungen schon jetzt anders machen?
Hochschild: Wichtig ist, dass gerade jetzt in dieser Krisensituation alle möglichen Spielräume ausgelotet und ausgenutzt werden müssen. Der Blick in das Umfeld der Schulen zusammen mit der Öffnung bietet die Möglichkeit unterstützende Institutionen in die Schule hinein zu holen und dabei die Inhalte gesellschafts- und lebensrelevanter zu gestalten. Wir sollten Kindern und Jugendlichen mehr zutrauen. Wenn wir gleichzeitig viel häufiger an das Vorwissen anknüpfen, von dem meist mehr vorhanden ist als gedacht, wird nicht nur Motivation, sondern auch die Selbstständigkeit gesteigert. Dadurch gestalten sich die beschrittenen Lernwege individueller nach den tatsächlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen der Lernenden.
Weitere Informationen
https://www.schule-kann-mehr.com/