Tendenzen
Warum habe ich nichts gesagt?
Wenn jemand gemobbt wird, gibt es Opfer und es gibt Täter. Aber auch wer nur zusieht trägt Verantwortung. Bekenntnisse einer Mitläuferin.
Ich habe schnell bemerkt, dass die anderen aus der Klasse schlecht über ihn reden. Ich wusste nicht wirklich, was vor sich ging. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich wusste nur: Ich wollte nicht auffallen und niemanden provozieren. Ich wollte nicht selbst zum Opfer werden. Also habe ich nicht eingegriffen. Ich habe zugesehen. Noch schlimmer: Ich habe weggesehen. Im Nachhinein habe ich mich oft gefragt, warum ich nichts unternommen habe gegen das Mobbing in meiner Klasse.
Der Junge tat mir leid. Wer wird schon gern als »Muttersöhnchen« bezeichnet, fett genannt oder nervig. Ich kannte ihn nicht gut, aber habe mir Sorgen gemacht, vor allem als er immer öfter fehlte. Aber gesagt habe ich nie etwas – nicht zu ihm und nicht zu den Mobbern. Dafür schäme ich mich. Aber ich hätte auch nicht wirklich gewusst, was ich hätte machen können, um zu helfen. Vor allem aber hatte ich Angst. Angst vor den Tätern. Angst, ich könnte zum Opfer werden. Zum Glück waren andere mutiger als ich. Klassenkamerad*innen sprachen unsere Klassenlehrerin an und das Mobbing konnte beendet werden.
Heute weiß ich, dass mein Verhalten falsch war. Aber ich weiß auch: Die meisten Menschen reagieren in solch einer Situation so wie ich. Woher kommt es, dass viele einfach wegsehen, wenn jemand gemobbt wird? Mobbing ist ein Prozess, der eine Dynamik entwickelt, die ich auch in der Mobbingsituation in meiner Klasse beobachten konnte. Der Haupttäter beleidigte das Opfer wegen seines Verhaltens oder seines Aussehens. Mit der Zeit wurde es schlimmer und ging so weit, dass der Mobber sagte, der Gemobbte solle doch Selbstmord begehen.
Einige wenige Mitschüler*innen beteiligten sich am Mobbing, die meisten aber zogen sich zurück, die Mobbingsituation wurde immer mehr akzeptiert. Irgendwann gab es so viele Mitläufer*innen und Zuseher*innen, dass ein einzelner, eindeutiger Täter nicht mehr zu identifizieren war. Das Opfer zog sich immer weiter zurück, und jeder konnte merken, dass er sich unwohl fühlte in der Klasse. Wenn ich mit Mitschüler*innen sprach, waren wir uns einig, dass wir gegen Mobbing sind und dass wir eigentlich eingreifen müssten. Aber die meisten von uns sind still geblieben.
Studien zufolge ist es an weiterführenden Schulen häufig so, dass die Wertevorstellungen dem tatsächlichen Verhalten widersprechen. Laut Expert*innen liegt der Grund dafür darin, dass neben den persönlichen Wertevorstellungen auch der Gruppenkontext eine große Rolle spielt. Während des Mobbingprozesses verschieben sich die sozialen Normen der Gruppe. Das geht so weit, dass das Ablehnen von Gewalt nicht mehr gegenüber dem Opfer gilt, sondern Gewalt gegenüber dem Opfer als positiv angesehen wird. Stattdessen wird die Unterstützung des Opfers als negativ und als ein Verstoß gegen die geltende Norm eingeschätzt. Generell versuchen wir alle, möglichst nicht den geltenden Normen zu widersprechen, um unseren sozialen Status beizubehalten oder zu verbessern. Verhält man sich nicht den Normen in der Gruppe entsprechend, kann dies zu Ausgrenzung aus der Gruppe führen – und dazu, dass man selbst zum Opfer wird.
Auch ich bin still geblieben. Ich war eingeschüchtert, weil ich gesehen habe, wie das Opfer behandelt, ausgegrenzt und beleidigt wurde. Ich wurde immer unsicherer und besorgter, je schlimmer die Beleidigungen wurden. Ich dachte immer mehr darüber nach, ob ich nicht etwas machen sollte, wusste aber auch nicht, was am besten zu tun wäre in so einer Situation. Ich wusste zwar, dass ich es moralisch für falsch halte wegzusehen, aber ich wusste nicht, wie ich dem Opfer helfen konnte, ohne selbst zum nächsten Opfer zu werden. Die Angst wog schwerer als mein Sinn für Gerechtigkeit und meine persönlichen Werte. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass es ein persönliches Versagen war, mich entgegen meiner persönlichen Wertevorstellungen zu verhalten, nur um nicht an sozialem Status zu verlieren.
Wenn ich mit Mitschüler*innen sprach, äußerten sie ähnliche Gedanken und Gefühle, sie befanden sich in demselben Dilemma. Auch sie hatten ein schlechtes Gewissen, wollten aber ebenfalls nicht involviert werden. Heute weiß ich: Indem wir zugesehen haben, ohne einzugreifen, konnten die Täter sich bestätigt fühlen. Wir waren gar nicht unbeteiligt, eigentlich waren wir Unterstützer*innen.
In unserem Fall hat sich dann doch eine Gruppe an die Klassenlehrerin gewandt. Diese hat in unserer Klasse über die Situation gesprochen und die Täter wurden zum Beratungslehrer geschickt. Die Mobbingsituation konnte entschärft werden, das Opfer wurde danach in Ruhe gelassen. Es gibt noch weitere Möglichkeiten sich für das Opfer einzusetzen. Man kann sich direkt an die Täter oder an die oder den Klassensprecher*in wenden. Man kann versuchen, das Thema in der Klasse anzusprechen, am besten nach Absprache mit einer Lehrkraft. Man könnte sich auch an Beratungslehrer*innen oder Schulsozialarbeiter*innen wenden.
Nicht zuletzt kann man versuchen, das Opfer direkt zu unterstützen, indem man ihm seine Solidarität zeigt, mit ihm spricht, es nicht weiter ausgrenzt. Denn wichtig ist: Mobbing wird erst möglich durch das spezielle Verhältnis zwischen den Tätern und deren Unterstützer*innen, dem Opfer und den Zuseher*innen und Mitläufer*innen in einem Mobbing-Prozess. Dadurch, dass wir Zuseher*innen still bleiben, dass wir uns nicht äußern, wenn jemand gemobbt wird, fördern wir das Mobbing. Nur wer eingreift, kann etwas an der Situation ändern. Ich habe durch mein Heraushalten nichts bewegen können. Erst die Mitschüler*innen, die etwas getan haben, konnten das Mobbing beenden.
Erschienen im Magazin q.rage Nr.14, qrage.org