Schwerpunkt "Schule neu denken"
Schulleitungen wollen Schule verändern
Trotz aller Herausforderungen im Schulalltag schaffen es Schulleitungen als Bildungsexpert*innen und Zukunftsgestalter*innen, Schule neu zu denken. Die Cornelsen Schulleitungsstudie zeigt auf, was sie sich wünschen.
Die Cornelsen Schulleitungsstudie, die im Jahr 2022 zum ersten Mal unter dem Titel »Schule zukunftsfähig machen« erschienen ist und dieses Jahr den Titel »Schule stärken – Digitalisierung gestalten« trägt, liefert eine Rundumperspektive von Schulleitungen auf Schule. Die repräsentative Studie im Auftrag des Cornelsen Verlags wurde vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin (FiBS) realisiert und soll Schulleitungen eine starke öffentliche Stimme geben.
Schulleitungen wollen aktiv die Schule der Zukunft – und dadurch auch: die Zukunft der Schule – gestalten. Sie möchten sich nicht auf die Rolle von Schulverwalter*innen beschränken. Sie erleben im beruflichen Alltag Herausforderungen und sehen sich mit Aushandlungsprozessen konfrontiert, die ihre Arbeit erschweren, manchmal aber auch zu ungeahnten Veränderungsimpulsen führen. Sie entwickeln trotz aller Schwierigkeiten Zukunftsvisionen und einige von ihnen schaffen es sogar, ihre Visionen Schritt für Schritt umzusetzen. Wie gelingt ihnen das?
Digitalisierter Unterricht als Gewinn
Diejenigen, die es schaffen, sich von den bestehenden Hindernissen – allem voran dem eklatanten Personalmangel – nicht zu stark ausbremsen zu lassen, fokussieren sich darauf, ihre Schulen, ihre Schüler*innen, ihr Lehrpersonal und nicht zuletzt sich selbst durch unterstützende, organisatorische und pädagogische Praktiken zu stärken und somit Resilienz und Selbstwirksamkeit zu fördern. Dabei verstehen sie den Digitalisierungsschub der letzten Jahre als Chance, um ihren Schüler*innen noch zielgerichtetere und nachhaltigere Lernerfolge zu ermöglichen, um gesellschaftliche Partizipation und Demokratiebildung auch digital zu fördern und zu begleiten und um Verwaltungs- und Kommunikationsprozesse zu erleichtern. Das Thema Digitalisierung durchdringt fast alle Bereiche, die für Schulleitungen relevant sind. Bei den wichtigsten Schulleitungsthemen werden die Digitalisierung des Unterrichts und die digitale Ausstattung von Schulen nach der Personalgewinnung an zweiter und dritter Stelle genannt.
Bildungschancen anzugleichen ist für Schulen in Deutschland eine wachsende Herausforderung. Die sozio-ökonomische Situation der Eltern hat immer noch maßgeblichen Einfluss auf den Bildungserfolg. Ein verschärfender Faktor für Chancenungleichheit ist nach Meinung von 82 Prozent der Schulleitungen der Mangel an individualisierten Fördermöglichkeiten. Digitalisierter Unterricht kann aus Schulleitungssicht – eingebettet in Schulstrukturen, die auch das soziale Miteinander stärken – den Zugang zu Lerninhalten erleichtern und individuelles und selbstbestimmtes Lernen unterstützen, etwa durch digital gestützte individualisierte Lernförderung und -diagnostik. Dabei sehen Schulleitungen aber auch die Anstrengungen, die es noch braucht, um alle Schulen und Schüler*innen ihren Bedürfnissen entsprechend mit Hard- und Software auszustatten und vor allem ausreichendes – und ausreichend fortgebildetes – Personal gestellt zu bekommen. Mehr als 70 Prozent der Schulleitungen würden die Mittel aus einem fortgesetzten Digitalpakt entsprechend in die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften investieren.
Sowohl Lehrkräfte als auch Schüler*innen brauchen technische Skills, um mit neuen Technologien umzugehen und medienkritische Skills, um die sich durch digital-analoge Vernetzungen ergebenden Veränderungen und Praktiken zu verstehen und gezielt nutzen zu können. Die Einführung digitaler Lernformate und Tools muss durch die Förderung von digitaler Mündigkeit, durch einen reflektierten Umgang mit digitalen Medien, Inhalten, Kommunikationsformen und -normen, begleitet werden. Lehrkräfte brauchen darüber hinaus pädagogische und didaktische Kompetenzen, um die neuen Technologien in einer Kultur der Digitalität gezielt für das Lernen einzusetzen. Digitalisierung ist hier gleichzeitig eine Chance wie auch eine Herausforderung: auf jeden Fall das Thema, mit dem sich Schulleitungen gerade intensiv auseinandersetzen.
Es braucht die analoge Begegnung
Coronabedingte Schulschließungen haben es erzwungen, digital zu lernen, zu kommunizieren, sich zu vernetzen und die Schule zu verwalten. Die Erfahrungen aus der Corona-Zeit haben Schulleitungen allerdings parallel zur Offenheit für neue, digitale Lernformate dazu bewegt, die Schule als sozialen Raum der analogen Begegnung stärker zu schätzen und zu pflegen. Eine starke Schulgemeinschaft braucht beides: das analoge wie auch das digitale Miteinander. Nahezu alle Schulleitungen sind sich einig, dass digitaler Unterricht von Präsenzphasen begleitet werden muss. Schule muss sich im Sozialraum, als Ort, an dem Beziehungen aufgebaut werden, entfalten können; auch und gerade im Ganztag. 85 Prozent der Schulleitungen sprechen sich für die gebundene Ganztagsschule aus, da sie mehr als nur leistungsbezogenes Lernen ermöglicht. Für 84 Prozent der Schulleitungen trägt die gebundene Ganztagsschule zur sozialen Integration von Schüler*innen bei.
Lebenskompetenzen fördern
Schulleitungen möchten ihre Schüler*innen möglichst gut für das Leben in der Welt des 21. Jahrhunderts rüsten, die auch als VUCA-Welt bezeichnet wird, weil sie durch Unbeständigkeit (Volatility), Unsicherheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) geprägt ist. Um sich in dieser Welt zurechtzufinden, braucht es neben den fachlichen, wie sprachlichen und mathematischen Kernkompetenzen persönliche und soziale Kompetenzen, die für das selbstbestimmte und soziale Lernen – ob analog oder digital – unerlässlich sind. Die Schule kann zur Aneignung und Erprobung dieser Kompetenzen einen entscheidenden Beitrag leisten.
Für 87 Prozent der Schulleitungen gehört auch Demokratie/civic education zu den Themen, die ein größeres Gewicht im Schulunterricht bekommen sollten. Doch Demokratie ist mehr als ein Unterrichtsthema; Demokratie möchte gelebt werden. In diesem Sinne befürworten Schulleitungen die Umsetzung einer demokratischen Pädagogik in der Schule und damit die Beteiligung von Schüler*innen in unterschiedlichen Aspekten und Formen. Für neun von zehn Schulleitungen ist es in diesem Sinne wichtig, dass Schüler*innen an Entscheidungen zur Schulgestaltung mitwirken und an schulischen Gremien teilhaben.
Um fachliche Kompetenzen und Lebenskompetenzen adäquat zu vermitteln, braucht es aus Schulleitungssicht mehr projektorientierte und fächerübergreifende Lernstrukturen und daran angepasste, lernförderliche Bewertungsformate. Drei von vier Schulleitungen sind zudem der Meinung, dass es eine Veränderung von Prüfungsformaten braucht – auch und vor allem im Hinblick auf Abschlussprüfungen – um Schule zukunftsfähig zu machen.
Für die moderne Vision von Schule als interdisziplinäre, demokratische Begegnungsstätte des Lernens werden multiprofessionelle Teams benötigt – etwa, um familiären Herausforderungen oder Lernschwierigkeiten von Schüler*innen zu begegnen. Dafür sehen über 90 Prozent der Schulen dringlichen Ausbaubedarf ihrer Teamstruktur. Auch die Rolle der Lehrenden soll sich ändern. Von einer zukunftsorientierten Schule erwarten 87 Prozent der Schulleitungen, dass es anstelle von »klassischen« Lehrer*innen Lernbegleiter*innen für die Schüler*innen gibt. Knapp die Hälfte der Schulleitungen gibt an, dass Lehrkräfte an ihrer Schule bereits als Lernbegleiter*innen agieren.
Dies ist als Ausdruck einer veränderten Lernkultur zu verstehen, in der Lehrkräfte nicht mehr Wissen vermitteln, sondern die Schüler*innen beim Erschließen, Einordnen, Strukturieren, Beurteilen und Anwenden von Wissen begleiten.
Für 82 Prozent der Schulleitungen gibt es an einer Schule der Zukunft ein Arbeitszeitmodell für alle Beschäftigten. Das bedeutet, dass die Lehrkräfte beziehungsweise Lernbegleiter*innen nicht in getakteten Unterrichtseinheiten (Deputatsstunden) denken, für die sie an die Schule kommen, sondern ihre gesamte Arbeitszeit an der Schule verbringen, sei es mit Lernbegleitung, Projektarbeit, eigener Fortbildung oder gemeinsamer und individueller Unterrichtsentwicklung. Aktuell sind es nur sechs Prozent der Schulen, die dies bei sich umsetzen (können).
Mehr Eigenständigkeit, weniger Bürokratie
Noch stärker als in der ersten Cornelsen Schulleitungsstudie wird in der aktuellen Studie der Ruf von Schulleitungen nach mehr Leitungszeit für die Schulentwicklung, nach mehr Gestaltungsfreiheit und Eigenverantwortung in ihrer Position und auf der Einzelschulebene laut. Diesem Ruf Gehör zu schenken, würde bedeuten, die hierarchisch und föderal komplex organisierten Strukturen der inneren und äußeren Schulangelegenheiten anders zu denken, in eine andere Balance zu bringen und könnte auch die Chance beinhalten, das Berufsbild Schulleitung klarer zu definieren und zu stärken. Erfolgreiche Schulleitungen sind gestalterische Visionär*innen, die sich um Entlastung sorgen, die Lerngemeinschaften, Team- und Vernetzungsstrukturen schaffen und die ihre Verhältnisse zu Schulbehörden und Schulträgern als unterstützend wahrnehmen, auch wenn sie hier mitunter über bürokratische Hindernisse stolpern.
Diese Hindernisse werden von den Schulleitungen beispielsweise im Bereich der Digitalisierungsprozesse wahrgenommen, oder aber auch im Bereich der Schulbauten: Für 88 Prozent der Schulleitungen zeichnet sich eine zukunftsfähige Schule durch ihre flexiblen Bau- und Raumstrukturen aus. Nur sieben Prozent geben an, über entsprechende Schulbauten zu verfügen, die ihnen die Möglichkeit geben, moderne Lernräume und Bildungslandschaften zu erschaffen. Fatalerweise ist dies ein Bereich, in dem Schulleitungen stark von ihren Schulträgern, den verwaltungstechnischen Rahmenvorgaben und finanziellen Mitteln abhängig sind und ihr eigener Handlungsspielraum begrenzt ist.
93 Prozent der Schulleitungen wünschen sich für ihre Schulentwicklung eine bessere Aufgabenverteilung und Entlastung auf der Leitungsebene. Denn neben der Schuladministration und dem eigenen Unterricht bestimmen viele kleinteilige Aufgaben die Arbeitswoche und die Zeit für konzeptionelle Arbeit bleibt dabei häufig auf der Strecke. 60 Prozent der Schulleiter*innen verbringen mehr als zehn Stunden in der Woche, 36 Prozent mehr als 15 Stunden, mit administrativen Tätigkeiten, aber nur bis zu drei Stunden mit Konzeptarbeit.
Um Schule nicht nur neu zu denken, sondern auch neu zu lenken, braucht es allerdings den entsprechenden zeitlichen Freiraum, den Mut von Schulleitungen, ihre Visionen (weiter) umzusetzen, Unterstützung aus Politik und Verwaltung und eine gehörige Portion gesellschaftliche Anerkennung.
Literaturhinweise
FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie im Auftrag von Cornelsen Verlag GmbH (2023): Schule stärken – Digitalisierung gestalten - Cornelsen Schulleitungsstudie 2023. Kurzfassung, Cornelsen Verlag GmbH, Berlin. https://www.cornelsen.de/schulleitungsstudie
Fichtner, S.; Bacia, E.; Sandau, M.; Hurrelmann, K.; Dohmen, D. (2023): Schule stärken – Digitalisierung gestalten. Cornelsen Schulleitungsstudie 2023. Gesamtstudie, FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie, Berlin. https://www.fibs.eu/fileadmin/user_upload/Cornelsen_Schulleitungsstudie2023_Gesamtstudie.pdf
Fichtner, S., Bittner, M., Bayreuther, T., Kühn, V., Hurrelmann, K. & Dohmen, D. (2022). „Schule zukunftsfähig machen“ - Cornelsen Schulleitungsstudie 2022: Gesamtstudie. FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie. https://www.fibs.eu/fileadmin/user_upload/Studie_Cornelsen_web.pdf