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Schule

Wie das Desaster der Berliner Schule begann

Die Ursprünge für die heutigen Probleme im Berliner Schulwesen sind zum Teil 20 Jahre alt. Dabei ist es vor allem die Arbeitsbelastung der Lehrer*innen und nicht die fehlende Ausstattung, die gravierende Folgen hat.

Foto: Adobe Stock

Anfang 2022 ist das Buch »Klassenkampf – Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann« erschienen. Autor*innen sind zwei Journalist*innen des Tagesspiegels: Susanne Vieth-Entus, die bekannte Bildungsexpertin dieser Zeitung, sowie Lorenz Maroldt, der Chefredakteur. Ob es die maroden Schulbauten, die unzureichende Ausstattung mit ausgebildeten Lehrkräften, die Problematik der Brennpunktschulen, die mangelhafte Ausstattung mit Digitaltechnik oder die gescheiterten Reformen sind – sie sprechen viele Aspekte an, die zum heutigen beklagenswerten Zustand der Berliner Schule geführt haben, und machen Vorschläge, was zu ändern sei, damit es besser wird. In der Mai/Juni-Ausgabe der bbz erschien eine Rezension dieses Buches, in der Wilfried Seiring, der Leiter des ehemaligen Landesschulamtes, die Leistung der Autor*innen und ihre Lösungsvorschläge anerkennt.

Ob Frau Vieth-Entus’ und Herrn Maroldts Lösungsvorschläge geeignet sind, den Zustand der Berliner Schule zum Guten zu verändern, bezweifle ich allerdings. Denn sie erwähnen eine sehr wesentliche Problematik lediglich in einem Halbsatz in der Mitte ihres Buches: die Arbeitszeit der Lehrkräfte und die zahlreichen Erhöhungen der Arbeitszeit, die »sie haben durchstehen müssen«. Sie betrifft damit die enorme Arbeitsbelastung der Lehrer*innen, also derjenigen, die den Kindern und Jugendlichen Wissen vermitteln sollen und, nicht zu vergessen, die sie zu den Werten unserer Demokratie erziehen sollen. Gemeinhin wird oft übersehen, dass in den Schulen auch Erziehung stattfindet.

Es kommt, wie ich finde, mehr auf gut ausgebildete und engagierte Lehrer*innen an als auf moderne Ausstattung, gut schließende Fenster und saubere Toiletten. Um es überspitzt zu sagen: Kinder lernen mit ihren Lehrer*innen, auch wenn es im Klassenzimmer zieht, wenn Sätze mit Kreide auf die Tafel geschrieben werden statt auf elektronischen Tafeln zu erscheinen oder das Klo schmuddelig ist. Wichtiger ist: Lernen und Erziehung können nur funktionieren, wenn die Lehrkräfte gut vorbereitet und gut ausgebildet sind. Die eigentliche Ursache für das Desaster der Berliner Schulen sind überforderte Lehrer*innen. Hinzu kommen immer mehr sogenannte Quereinsteiger*innen, die keine Lehramtsausbildung haben, und vor allem Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung (LOVL), die ohne jede Fort-und Weiterbildung unterrichten.

Der Ursprung der Misere liegt in politischen Entscheidungen vor zwei Jahrzehnten. Damals war Berlin vergleichsweise arm. Nach der deutschen Einheit fielen die Subventionen für die Stadt innerhalb kürzester Zeit weg. Der Senat unter Klaus Wowereit begann deshalb, die Ausgaben des Landes radikal zu kürzen, darunter die Personalausgaben im öffentlichen Dienst. Das »Mittel der Wahl« war die Erhöhung der Wochenarbeitszeit der dort beschäftigten Angestellten und Beamt*innen.

 

Steigerung der Arbeitsbelastung

 

Die Erhöhung der Arbeitszeit für die Beamt*innen auf 42 Stunden wurde zwar später wieder zurückgenommen beziehungsweise auf 40 abgesenkt. Für die Lehrkräfte, die zumeist Beamt*innen waren, hatte das aber keine Auswirkungen. Ihnen wurde die Zahl der Pflichtstunden in mehreren Schritten massiv erhöht. Die Zahl der pro Woche zu unterrichtenden Stunden stieg von, je nach Schultyp, 22 bis 26 Stunden auf 26 bis 28 Stunden. Lehrer*innen mussten nicht nur länger unterrichten, sondern bekamen damit auch weniger Zeit für Vorbereitung, die Korrektur von Klassenarbeiten, die Zusammenarbeit mit den Eltern und mit Behörden.

Das »Privileg« für ältere Lehrkräfte, weniger zu unterrichten, fiel ebenfalls weg, genauso wie Abminderungen für Lehrer*innen, die besondere Aufgaben an der Schule übernommen hatten. Mit all diesen Maßnahmen »ersparte« sich der Senat, junge Lehrkräfte einzustellen, denn die vorhandenen konnten die pensionierten Kolleg*innen problemlos ersetzen, waren aber von Jahr zu Jahr in immer stärkerem Maße überfordert. Dies ist die wesentliche Ursache für seit Jahren sinkende Schüler*innenleistungen in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie steigende Quoten an Schulabbrecher*innen. Weil man Lehrkräftenachwuchs nicht mehr brauchte, wurden Ausbildungsseminare geschlossen, so dass jede bisherige Seminarleitung mit zehn zusätzlichen Unterrichtsstunden eingesetzt werden konnte. Außerdem konnten Lehramtsstudiengänge an den Universitäten abgeschafft werden, was durchgezogen wurde, damit auch im Hochschulbereich »gespart« werden konnte.

Dies zusammengefasst bedeutete zum Beispiel in der Praxis: Lehrer*innen an Grundschulen mussten am Ende ihres Berufslebens 28 statt 23 Stunden, also 21 Prozent mehr, unterrichten. Noch schlimmer war es an Gymnasien, wo im Jahr vor der Pensionierung nicht mehr 19 Stunden pro Woche zu unterrichten waren, sondern 26, also über 35 Prozent mehr. Und es gab weitere Maßnahmen, die die Arbeitsbelastung erhöhten. Dazu gehörten größere Klassen und Kurse, die Minderung der Zahl der Unterrichtsstunden in einigen Fächern, der Wegfall einer kompletten Klassenstufe an Gymnasien et cetera. Viele dieser Maßnahmen wurden als pädagogische Reformen angepriesen, letztlich ging es aber immer darum, Geld nicht ausgeben zu müssen. Die Folgen davon sind inzwischen überall erkennbar: an der Zahl der Abgänger*innen ohne Schulabschluss, am unzureichenden Wissensstand für die Berufsausbildung, am Vertreten demokratischer Werte bei den Heranwachsenden, natürlich auch am Zustand und der Ausstattung der Gebäude.

 

Auswirkungen werden noch eine Weile bleiben

 

Heute, zwei Jahrzehnte später, gibt sich der Senat überrascht, dass Lehrer*innen in großer Zahl in Pension gehen und es an ausgebildeten Lehrkräften mangelt, und stellt inzwischen fast jeden ein, der an der Schule arbeiten möchte. Darunter müssen vor allem in den Grundschulen die meisten Quereinsteigenden noch Unterrichtsfächer im Senatsprogramm »nachstudieren«. Dabei erledigen sie ihre Arbeit ganz überwiegend mit hohem Engagement, doch es fehlt ihnen oft an grundlegender Ausbildung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Das »Handwerk«, Kinder und Jugendliche zu unterrichten und zu erziehen, ja beim Erwachsenwerden zu begleiten, müssen sie nebenbei erlernen, was viele überfordert. Noch gravierender ist, dass inzwischen permanent um die 2.000 Lehrkräfte in den Schulen in der Regel befristet arbeiten, die als sog. LoVL nicht mal die Voraussetzungen für die berufsbegleitende Ausbildung zum*zur Lehrer*in erfüllen.

Die Folgen davon wird man in wiederum circa zwanzig Jahren merken, wenn die Schüler*innengeneration, die dann herangewachsen ist, in die Berufe und in Führungspositionen drängt. Damit werden sich die Auswirkungen der politischen Entscheidungen von vor zwanzig Jahren zu potenzieren beginnen. Was das für unser Land bedeutet, mag man gar nicht abschätzen.

Der heutige Lehrkräftemangel kündigte sich bereits in den neunziger Jahren an. Um ihn zu vermeiden, schlossen der Berliner Senat und die GEW einen Vertrag. Berliner Lehrer*innen sollten zwei Jahre lang zwei Unterrichtsstunden pro Woche mehr arbeiten. Diese Zeit wurde ihnen auf einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Nach zwei weiteren Jahren Wartezeit sollten diese Konten wieder durch zwei Jahre Minderarbeit geleert werden. Doch bevor die »Rückzahlung« der Arbeitszeit anstand, erhöhte der Senat die Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte um eben diese zwei Stunden. Zwar bekamen die Lehrer*innen früher als im Vertrag vorgesehen ihre vorgearbeiteten zwei Stunden zurück, unterrichteten aber gar nicht weniger. Danach aber mussten sie zwei Stunden mehr unterrichten. Viele fühlten sich betrogen.

Diese Maßnahmen, die das Bildungswesen in Berlin massiv verschlechtert haben, kommen im Buch von Susanne Vieth-Entus und Lorenz Maroldt kaum vor. Die darin in den Vordergrund gerückten Mängel in der technischen Ausstattung der Schulen und im Zustand der Gebäude sind zwar ebenfalls skandalös, aber letztlich »Peanuts« gegenüber den Arbeitsüberlastungen, die der Senat den unterrichtenden und erziehenden Lehrkräften zumutet. Will der Senat ernsthaft das Berliner Bildungswesen verbessern, dann muss er die Arbeitszeit der Lehrer*innen deutlich senken.      

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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