Zum Inhalt springen

Schule

Wir brauchen mehr als gute Ratschläge

Der neue Leitfaden zum Schulbesuch neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher bietet positive Denkansätze und Vorschläge, bleibt dabei aber unverbindlich.

Foto: IMAGO

Der »Leitfaden zur Integration neu zugewanderter Kinder und Jugendlichen in die Schule« wurde im April 2023 veröffentlicht. Diese neue Version zeigt eine Haltung, die der neu zugewanderten Schüler*innenschaft gegenüber deutlich offener ist und liefert viele detaillierte Informationen und Aufgabenbeschreibungen für Lehrkräfte, Schulleitungen und Schulgemeinschaften hinsichtlich der Fragen rund um den Schulalltag. Er bietet Hilfestellungen zu verschiedenen Aspekten, wie zu Diagnose und Sprachstandsdokumentation, zur Vorbereitung auf die stufenweise Integration in den Regelunterricht, zum organisatorischen Ablauf des Übergangs für Schüler*innen unterschiedlichen Alters in Regelklassen und zum Einbezug der Erstsprache in den Fach- und Sprachunterricht.

Allerdings stellt der Leitfaden größtenteils nur eine unverbindliche Handlungsempfehlung dar. Damit sich die schulische Situation für diesen Personenkreis substanziell verbessert, muss der Berliner Senat rechtsverbindliche Regelungen entwickeln, beschließen und umsetzen.

 

Schulbesuch darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängen

 

Die Schulbesuchspflicht für geflüchtete Schüler*innen beginnt bereits mit dem Vorliegen eines Ankunftsnachweises für ein Asylgesuch. Gleich zu Beginn des Leitfadens werden die entsprechenden Rechtsverordnungen zitiert und erläutert.

Aktuell warten über 1.100 geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche bereits seit Monaten auf einen Schulplatz. Die Umsetzung der Schulpflicht liegt bei dieser Zielgruppe nur bei etwa 90 Prozent. Der Schulbesuch hängt in Berlin gegenwärtig vom Aufenthaltsstatus ab. Für geflüchtete und neu zugewanderte Schüler*innen wird das Recht auf Bildung nicht angemessen umgesetzt.

Berlin muss dafür sorgen, Schulplätze für alle, also auch für diese Schüler*innen, dauerhaft und in hinreichendem Umfang bereitzustellen. Sowohl in der Schulentwicklungsplanung als auch beim Schulbau und bei der Lehrkräfteausbildung muss das berücksichtigt werden.

Zudem muss ein Konzept für Sofortmaßnahmen entwickelt werden, das in Krisensituationen greift und durch Nachmittags- und Wochenendunterricht oder durch Übergangsprogramme dafür sorgt, dass kein Kind und kein junger Mensch länger vom Lernen abgeschnitten ist.

 

Ohne Ressourcen keine Integration

 

Auf den ersten Blick scheint der aktuelle Leitfaden einen Meilenstein darzustellen. Er beschreibt die Integration der Schüler*innenschaft der Willkommensklassen und ihrer Lehrkräfte in die gesamte Schule als Aufgabe des Kollegiums, der Schulgemeinschaft und der Schulleitung. Es geht um die schrittweise Vorbereitung der Schüler*innen auf einen erfolgreichen Besuch einer Regelklasse unter Bezug auf die unterschiedlichen Unterrichtsfächer und es wird eine enge Begleitung beim Übergang empfohlen. Weiterhin wird empfohlen, dass die Schüler*innen beim Übergang in eine Regelklasse nach Möglichkeit an ihrer Schule verbleiben können sollen.

Dabei werden die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen als vielfältige Schüler*innenschaft wahrgenommen und ihren Bedarfen wird mehr Rechnung getragen. Die Bildungsbiografien und mitgebrachten Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen sollen im Unterricht ressourcenorientiert, gezielt und systematisch einbezogen werden. Die individuelle Förderung der in Regelklassen übergegangenen Schüler*innen wird als verpflichtend genannt.

So wird die Möglichkeit der direktintegrativen Beschulung von Anfang an, verbunden mit der Verpflichtung zu Sprachförderung genannt. Zusätzlich zu den regulären Willkommensklassen gibt es die Möglichkeit, Willkommensklassen mit besonderer Ausrichtung einzurichten, etwa Alphabetisierungsklassen. Bedauerlicherweise haben diese ausgesprochen unterstützenden Empfehlungen nur Vorschlagscharakter und sind nicht bindend.

Obgleich sich Berlin als inklusives Schulsystem versteht, sind die Schulen nicht dazu verpflichtet, in den Fächern Kunst und Sport den neu zugewanderten Schüler*innen gemeinsamen Unterricht mit Regelschüler*innen zu ermöglichen, was den Spracherwerb und die soziale Teilhabe sehr unterstützen könnte.

Auch die im Leitfaden präsentierte, äußerst sinnvolle Stundentafel mit Fachunterricht von Anfang an, ist nicht verpflichtend. Diese Unverbindlichkeit betrifft auch die im Leitfaden angemahnte verpflichtende Sprachförderung nach dem Übergang. Hier gibt es keine vom Sprachniveau abhängigen garantierten Stundenzahlen und keine gesonderten Ressourcen für die Schulen.

Ein Leitfaden mit Vorschlagscharakter reicht nicht aus. Berlin benötigt ein klares und rechtsverbindliches Konzept, das die Rahmenbedingungen einer inklusiven Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher vorgibt und damit Qualitätsstandards setzt. Dazu gehört ein verpflichtendes mehrstufiges, alters- und kompetenzabhängiges Übergangskonzept bis zur vollständigen Integration in den Regelunterricht mit garantierter langfristiger Förderung. Ebenso einheitliche und verpflichtende Sprach- und Lernstanderfassungen, sowie die Einführung von Deutsch als Zweitsprache als ordentliches Schulfach mit verpflichtendem Curriculum und eine verbindliche Stundentafel mit Fachunterricht für Willkommensklassen.

 

Mehrsprachigkeit als Ressource nutzen

 

Berlin ist eine Stadt mit einer großen Sprachenvielfalt, die eine Chance und Bereicherung für Individuum und Gesellschaft darstellt. Positiv ist anzumerken, dass der Leitfaden Mehrsprachigkeit als Ressource benennt und die Berücksichtigung der Erstsprachen im Unterricht als didaktisches Prinzip nahegelegt. Weiterhin beschreibt er detailliert, wie Erstsprachen als zweite Fremdsprachen anerkannt werden können und weist auf die Berliner Angebote für zusätzlichen erstsprachlichen Unterricht hin.

Insgesamt betrachtet spielt die Förderung der Mehrsprachigkeit im Leitfaden jedoch nur eine Nebenrolle. Die Einbeziehung der Erstsprache in den Unterricht ist für viele Fachlehrkräfte eine ungewohnte Herausforderung, bei der sie Unterstützung bräuchten. Diesbezüglich könnte ein Austausch mit den Lehrkräften und Fortbildner*innen der SESB hilfreich sein.

Während im Berliner Mehrsprachigkeitskonzept der bilinguale Sachfachunterricht als wesentlicher Baustein zur Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit benannt wird, gibt es im Leitfaden dazu für geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche keinerlei Hinweise und Vorschläge. Dabei würde die Entwicklung solcher Unterrichtsangebote die schulische Integration erleichtern, Brüche in der Bildungsbiografie vermeiden und die erstsprachlichen Kompetenzen stärken. Ein Beispiel dafür ist das Modellprojekt der Deutsch-Ukrainischen Begegnungsschule, das in Berlin im Jahr 2022 mit circa 80 Schüler*innen gestartet ist und sich an deutschen und ukrainischen Lehrplänen und Bildungsabschlüssen orientiert. Es wäre überaus wünschenswert, dass erstsprachlicher oder bilingualer Sachfachunterricht auch für andere Migrationssprachen und für eine größere Schüler*innenzahl entwickelt und angeboten würde. Damit könnte, neben den positiven Effekten für die Schüler*innen, zugleich auch geflüchteten Lehrkräften ein Einstieg ins Schulsystem ermöglicht werden.

 

Ein Anfang ist gemacht, aber…

 

Der neue Leitfaden kann durchaus die Schulorganisation erleichtern und schulische Qualitätsverbesserungen anregen. Doch trotz der vielen positiven Neuerungen in der aktuellen Version, reicht er als meist unverbindliche Handlungsempfehlung nicht aus. Um in Berlin den Schulerfolg und die Teilhabe der Schüler*innen nachhaltig zu steigern, braucht es rechtsverbindliche Regelungen und hinreichende Ressourcen für die Umsetzung der Schulpflicht unabhängig vom Aufenthaltsstatus, für eine inklusive und qualitativ hochwertige Beschulung sowie für die Förderung und Nutzung der Mehrsprachigkeit.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46