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Schule

Zwei Schulstunden am Tag

Länger dürfen manche Kinder nicht die Schule besuchen. Diese dauerhafte Schulzeitverkürzung trifft oft Familien mit Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderstatus.

Foto: Adobe Stock

Jascha war noch nie im Hort. Jascha, dessen Namen wir geändert haben, kennt auch nicht die zweite große Hofpause. Seit fast zwei Schuljahren wird Jascha nach der zweiten Schulstunde von seiner Mutter abgeholt. Sie ist es dann, die das Mittagessen kocht, Schulstoff vermittelt, für Bewegung sorgt. Soziales Lernen in der Peergroup kann sie nicht ersetzen. Das, was die Schule für sich als unzumutbar hält, wird Jaschas Familie zugemutet. Aufgrund der von der Schule beantragten Schulzeitverkürzung ist die Familie von Armut betroffen. Denn Arbeiten gehen kann die Mutter nicht. Jascha hat Autismus und ist schnell überfordert. Erkennt man seine Signale nicht, reagiert er so, dass es von außen betrachtet auf Menschen impulsiv wirken kann. Schulzeitverkürzungen betreffen vor allem Kinder mit autistisch typischen Verhaltensweisen, die als »aggressiv« bezeichnet werden. Kinder mit ADHS. Kinder, die Toilettenpapier anzünden, Stühle schmeißen oder andere verletzen. Es passiert an Förderschulen und an inklusiven Schulen.

 

Nicht das Kind ist schuld

 

Geht es um Ruhen der Schulbesuchspflicht beziehungsweise die Dezimierung dieser auf wenige Stunden am Tag, muss die Situation und nicht nur das Verhalten des Kindes genauer analysiert werden. Ein Kind, das aufgrund von Medikamenten gegen Mittag regelmäßig einschläft und daher früher nach Hause geschickt wird, ist in einer anderen Situation, als ein Kind mit Autismus oder mit sogenanntem herausforderndem Verhalten mit Förderbedarf, das täglich nach zwei oder drei Stunden nach Hause geschickt wird, weil es »zu herausfordernd« ist.

Natürlich hat die Schule eine Schutz- und Fürsorgepflicht allen gegenüber. Doch wird oft der erforderliche Rahmen für Kinder, die behinderungsbedingt »explodieren« und den Feuerlöscher durch die Scheibe schmeißen oder jemanden einen Stift durch die Hand stechen wollen, nicht geschaffen. Die Anzeichen der Überforderung werden nicht erkannt. Es fehlt an zusätzlichem Personal, das erstens auf Kinder mit diesen Verhaltensweisen spezialisiert ist (»Hallo Senat, damit sind keine Schulhelfer*innen gemeint«) und zweitens die überfordernde Situation mit dem Kind verlassen kann und bei der Selbstregulation draußen oder in anderen Räumen unterstützt. Selbst an vergleichsweise gut ausgestatteten Förderschulen kommt es zu Schulzeitverkürzungen, trotz der zwei oder drei Lehrkräfte auf sechs Kinder. So muss eine Mutter aus Syrien, die dringend einen Deutschkurs machen möchte, ihr »schwermehrfachbehindertes« Kind nach der dritten Stunde abholen. Ihr wurde offen gesagt, dass es an Personal fehlt, um das weglauftendierende Kind mit wenig Impulskontrolle zu beaufsichtigen. Die hohe Anzahl von Familien, die unfreiwillig von Schulzeitverkürzung betroffen sind und die sich dagegen zur Wehr setzen wollen, zeigt, dass es um fehlende Rahmenbedingungen und ein überfordertes System Schule geht, nicht um eine Überforderung des Kindes, die allzu oft als das Totschlagargument schlechthin verwendet wird. Dass die Familien ebenso überfordert werden, scheint keine Rolle zu spielen. Was die Schule nicht schafft, wird auf die Eltern abgeladen.

 

Entscheidung im Nebel

 

Die vom Senat erwünschte Teilnahme an geeigneten alternativen Bildungs- oder Erziehungsangeboten findet kaum statt, da es kaum Plätze gibt und autismusspezifisch geschultes Personal, Konzepte und Angebote fehlen. Denn relativ oft trifft es Familien mit Kindern im Autismus-Spektrum. Die Anfrage 19/13840 des Abgeordneten Lars Düsterhöft zeigt das erforderte Vorgehen: »Grundsätzlich entscheidet die Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Klassenkonferenz, nach Anhörung der Schülerin oder des Schülers und seiner oder ihrer Erziehungsberechtigten, auf Grundlage einer Stellungnahme des Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrums (SIBUZ) über die vorübergehende vollständige oder teilweise Aussetzung der Schulpflicht. Die möglichst rasche Wiedereingliederung in die Schule ist dabei das Ziel.«

Oft wird dem Wunsch der Schule entsprochen, das SIBUZ hat kaum Kapazitäten einer gründlichen Überprüfung. Im Moment ist es auch so, dass die Dauer einer ruhenden Schulbesuchspflicht gesetzlich nicht festgeschrieben ist. Was genau »vorrübergehend« heißt, ist Interpretationssache. Die Erarbeitung einer Ausführungsvorschrift zu Paragraph 41 Absatz drei des Schulgesetzes soll einen konkreten Rahmen festlegen. Wann diese aber fertig ist, bleibt ungewiss.

Eine ältere Anfrage des Abgeordneten Lars Düsterhöft (Drucksache 18/23908) zeigt, dass die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie keine Daten dazu erhebt, wie viele Kinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung von »Schulzeitverkürzungen« betroffen sind. Welche Kinder also dem Senat gemeldet werden, kommt oft auf die Eltern an, die sich hilflos an die zuständigen Mitarbeiter*innen wenden.

 

Die Eltern bezahlen mit ihrer Armut

 

Die Eltern dieser Kinder werden augenscheinlich in die Armut getrieben, weil sie nicht oder nur eingeschränkt arbeiten gehen können. Sie haben den ganzen Tag ein herausforderndes Kind zu betreuen und sich um sein leibliches und gesundheitliches Wohl zu kümmern. Aber das schwerwiegendste Argument ist wohl, dass dem Kind das Recht auf Bildung nur eingeschränkt oder gar nicht zuteilwird. Damit für diese Kinder ihr Recht auf Bildung verwirklicht wird, müssen personelle, sachliche und räumliche Ressourcen geschaffen werden. Es braucht professionelle und verlässliche Alternativen zum unfreiwilligen Homeschooling. 

Ist es tatsächlich so, dass – wie in der Anfrage 18/23908 vom Senat angedeutet – der Schutz der anderen Kinder und des Personals höher wiegt, als das Recht des Kindes mit Behinderung auf Bildung? Das klingt erstmal plausibel, entpuppt sich aber als ein vorgeschobenes Argument, um den Personalmangel und die fehlende Eingliederungshilfe in der Schule zu verschleiern. Denn solche Kinder bräuchten eine Eins-zu-Eins-Betreuung und das permanent. Mit ausreichender Unterstützung wäre eine Beschulung bei vielen Schüler*innen möglich. Es muss also eine Lösung geschaffen werden, die Eltern entlastet und die Schulen zu einem dauerhaften Bildungsort für diese Schüler*innenschaft befähigt. Die Senatsverwaltung ist in der Pflicht.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46