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bbz 09 / 2017

Inklusion statt Aussonderung

Menschen mit Behinderung sind bis heute nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert. Schönrederei ist hier nur kontraproduktiv. Es gilt genau hinzusehen

Auf dem »Zukunftskongress 2025« wird ein Forum von der Moderatorin mit der Aufforderung eröffnet: »Alle, die eine Brille tragen, gehen auf die linke Seite, die anderen bitte nach rechts.« Gefolgt von der Ansage: »Alle, die schnarchen, bitte nach links, die übrigen bleiben stehen.« Und so weiter. Als ob das Tragen von Sehhilfen oder die Tonlage des Schnaufens zentrale Probleme der Inklusion sind. Dass solche launigen Spielchen eine unzulässige Verharmlosung von real existierenden Erfahrungen und Erkenntnissen beinhalten, hat die politische Behindertenbewegung schon vor 40 Jahren kritisiert. Aber es scheint, als ob nachhaltige Lernerfolge lange Zeit brauchen. Ein Beleg dafür, dass das Ideal einer inklusiven Gesellschaft im Bereich der Utopie zu verorten ist, auf dem Weg dorthin aber ermutigende Inseln entstehen können.

Ist für behinderte Menschen in Zeiten der allseits proklamierten Inklusion das Paradies zum Greifen nahe? Oder ist es nicht viel mehr so: Die Bemühungen um Integration sind gescheitert, deshalb versuchen wir es jetzt mit dem Ansatz der Inklusion. Denn ohne Zweifel ist es ein Fortschritt, dass die Forderung behinderter Menschen auf Teilhabe zum Menschenrecht erhoben wurde. Aber die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« hat immerhin seit 1948 Geltung.

Entweder ist diese Erklärung für behinderte Menschen bedeutungslos, so dass eine Sonderkonvention her muss. Oder aber das verbreitete Bewusstsein hat Personen mit Behinderung bis heute nicht als vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert. Vieles spricht für diese Behauptung. Zur Veränderung von Bewusstseinslagen sind Konventionen und Gesetze wenig geeignet. Sie sind hilfreiches Instrument für juristische oder parlamentarische Auseinandersetzungen.

Verbale Verharmlosung hilft nicht

In den letzten vier Jahrzehnten kam in die deutsche Behindertenpolitik Bewegung. Die Rede ist von Rechten statt Fürsorge, von Inklusion statt Aussonderung, von Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung. Aber sobald sich bei genauem Hinsehen die angeblichen Veränderungen als nicht stichhaltig erweisen, verschwindet die Realität hinter verbaler Verharmlosung. Plötzlich handelt es sich nicht mehr um eine Heimeinweisung, sondern um das Wohnen im stationären Bereich. Die Krücke verwandelt sich in eine Gehhilfe. Aus dem Menschen mit einer geistigen Behinderung wird die Person mit besonderen Fähigkeiten, der Gehörlose mutiert zum Experten für Gebärdensprache, die Rollstuhlfahrerin entpuppt sich als Frau mit eigenen Mobilitätsvoraussetzungen, komplizierte Persönlichkeiten haben spezielle Verhaltensqualitäten.

Wem nützt die politisch korrekte Schönrederei? Die Treppen bleiben ein Hindernis, unübliche Kommunikation ist noch immer ein Grund zur Kontaktvermeidung und die Unterbringung in Institutionen bedeutet in der Regel nach wie vor, einen fremdbestimmten Alltag leben zu müssen.

Nicht genau hinsehen zu müssen beinhaltet, das Potential für Veränderungen zu ignorieren. Individuell bleibt der Ausweg in die bequeme Position des ewigen Opfers. Notwendige Hilfe soll von außen kommen. Selbstbestimmung beinhaltet aber stets, selbst nach eigenen Möglichkeiten aktiv zu werden.

Eine recht eigentümliche Auslegung von Inklusion bieten die Träger der Werkstätten für behinderte Menschen. Diese sieht vor, immer mehr Menschen in die Gemeinsamkeit des Sonderweges zu schicken. Nahezu 300.000 als behindert diagnostizierte Personen arbeiten bereits in diesen Sonderstätten, Tendenz steigend. Ziel soll die Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt sein. Diese Aufgabe wird nicht erfüllt. Von 1.000 behinderten Mitarbeiter*innen finden nur zwei aus der Werkstatt einen regulären Arbeitsplatz. Der Werkstättenmarkt liegt in den Händen der großen Organisationen der Wohlfahrt. Obwohl alle Beteiligten wissen, dass sich am aussondernden Charakter der Werkstatt seit Jahrzehnten nichts verändert hat, hört sich die Selbstdarstellung ganz anders an.

Die Dinge beim Namen nennen

So bilanzierte der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten, Martin Berg, die Werkstätten-Messe 2013 mit den Worten: »Hier ist direkt greifbar, welchen Beitrag Werkstätten für eine inklusive Arbeitswelt leisten. Diese Botschaft möchten wir mit der Werkstätten-Messe senden: Wir können dafür sorgen, dass mehr Menschen mit und ohne Behinderung zusammen arbeiten.«

Nun mag es stimmen, dass die Mehrheit der in den Werkstätten Beschäftigten auf dem ökonomisierten ersten Arbeitsmarkt keine Chance bekommt, was ebenso auf etliche der in den Werkstätten schaffenden nicht behinderten Mitarbeiter*innen zutreffen dürfte. Dies zu benennen und die Werkstatt für behinderte Menschen ehrlich als Sondereinrichtung zu kennzeichnen, wäre überzeugend. Das Reden je nach Zeitgeist von Partizipation, Integration und Inklusion ist dagegen Augenwischerei und bremst jede inklusive Entwicklung aus.

Wer bestimmt, ob Inklusion gelungen oder gescheitert ist? Und wie lässt sich Inklusion denken, ohne die Besonderheit des Anderen zum Verschwinden zu bringen? Erinnert sei an die Warnung des Philosophen Theodor W. Adorno, dass in der Betonung der Gleichheit der Menschen ein unterschwelliger Totalitätsgedanke mitschwingt, dem nur durch die Akzeptanz der Vielfältigkeit und Verschiedenheit zu begegnen sei. Insofern müsste der Inklusionsgedanke akzeptieren, dass Menschen das Gegenteil dieser Idee anstreben: Die Freiheit zum selbst gewählten Ausschluss, zur Exklusion.

Normal ist wer…

Diese Auseinandersetzung hat immer auch den Integrationsansatz kritisch begleitet. Ich habe vor mehr als 20 Jahren formuliert: »Das schöne Wort ›Integration‹ sollte näher betrachtet werden. Alle Integrationsmodelle werden gemacht, und zwar von nicht behinderten Eltern, Lehrkräften, Fachleuten. Sie bestimmen, welche behinderten Kinder oder Erwachsenen wann, wo, warum oder überhaupt integriert werden, sie sind es selbstverständlich auch, die beurteilen, ob diese Versuche als gelungen oder fehlgeschlagen gelten. Das Normalitätsdenken, der ständige Konfliktbereich zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, fällt in den Beurteilungen und Überlegungen einseitig unter den Tisch – wer die Macht der Normalität auf seiner Seite weiß, hinterfragt sie nicht. Als integriert gilt folglich, wer sich so verhält, wie es vorgezeichnet und erwartet wird. Damit übt der unreflektierte Integrationswille einen enormen Anpassungsdruck aus auf die Werte und Normen der Leistung, des Verhaltens oder des Aussehens. Sich dem zu beugen setzt für behinderte Menschen die Verleugnung von Teilen ihrer Identität voraus. Das hat mit gleichberechtigten Möglichkeiten und selbstbewusstem Handeln nichts zu tun.« Diese Überlegungen und Beobachtungen gelten nach wie vor.

Allein der Anblick von ungewöhnlichen Körperhaltungen, Körperbewegungen löst Abwehr und Furcht aus. Und diffuses Mitleid, das nur durch das äußere Erscheinungsbild gespeist wird. Furcht und Mitleid sind Formen der Abwertung und Entwürdigung, die diejenigen treffen, die willkürlich gesetzte Ideale nicht erfüllen. Ich sehe keine Anzeichen einer Entwicklung, die Körperkult und Jugendwahn bremsen würde. Attraktives Aussehen von Frauen und Männern wird immer mehr zu einem wichtigen Faktor für das Erreichen von privaten Zielen und gesellschaftlich anerkannten Positionen. Inklusion hin oder her.
»Stell Dir vor, es ist Inklusion und niemand ist mehr da!« – dieser Satz ist mit Blick auf die »Eugenik von unten« so unsinnig nicht: Immerhin neun von zehn Frauen entscheiden sich inzwischen bei der Diagnose »Trisomie 21« für den Schwangerschaftsabbruch. Das, obwohl die Kinder mit der »Trisomie 21« so etwas wie das fröhliche Gesicht der Inklusions-Anzeigen sind. Ehrlich gesagt heißt das: Wir wollen Inklusion, aber keine behinderten Menschen.

In diesem Sinne eine Antwort auf die moderne Frage: Wird alles gut, wenn die Inklusion umgesetzt ist? Die Behindertenbewegung hat in ihren Anfängen provokativ behauptet: »Behinderung ist schön!« Auf die Ge-genwart bezogen kann von gelungener Inklusion nur gesprochen werden, wenn die Allgemeinheit behinderte Körper als schön empfindet. Bis dahin aber, so meine ich, ist es noch ein sehr, sehr langer Weg.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „Inklusive HALTUNG“  [zur gesamten Ausgabe]